Kim Scheider

Der rote Feuerstein


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wandte Paul sich in Richtung Ausgang. „Ich geh’ noch kurz was an die Luft, vielleicht geht es dann besser.” In Windeseile zog er sich an und flüchtete regelrecht aus der Wohnung. Wieder rasten die Gedanken durch seinen Kopf, der allmählich zu platzen schien.

      So viel zum Thema Urlaub und entspannen, dachte er genervt und humpelte, so schnell es sein monströser Muskelkater erlaubte, Richtung Nord-Ost-Gelände, wo die Dünenfähre im Moment immer an- und ablegte.

      Mein Vater ist auf der Düne. Der Rochusmensch ist auf der Düne. Womöglich ist Vicki auch noch drüben. Vicki!, dachte Paul. Was ist das eigentlich für ein komischer Name für eine Fee?

      Er nahm sich vor, sie danach zu fragen, wenn er sie das nächste Mal sähe. Denn, dass er sie wiedersähe, daran zweifelte er mittlerweile nicht mehr. Der scheinbar vor Wut rasende Rochusmensch, den er noch vor Minuten gesehen hatte, zeigte ihm deutlich, dass er wohl doch keine Tagträume oder Halluzinationen hatte. Und so, wie das Monstrum getobt hatte, war es ihm wohl noch nicht gelungen, die kleine Fee zu schnappen.

      Was auch immer es mit ihr vorhatte.

      Da er im Moment sowieso nichts tun konnte und das unheimliche Wesen nicht mehr zu sehen war, beschloss Paul zunächst einmal die Helgoländer Bücherei aufzusuchen, neben der er quasi sowieso gerade stand. Die freundliche Frau darin hatte ihm schon häufig gute Bücher empfohlen. Sie wüsste sicherlich auch, wo er etwas über Atlantis finden konnte, sei es nun in Form von wissenschaftlichen Berichten oder Sagen und Mythen. Außerdem hatte die Bücherei auch Fenster mit Dünenblick, so dass er gleichzeitig noch unauffällig das Geschehen dort drüben im Auge behalten konnte.

      Eine Stunde und unzählige Blicke aus dem Fenster später, sah Paul die letzte Dünenfähre anschippern. Er wankte mit einem gefährlich hohen Stapel Büchern aus dem Gebäude neben dem Anlegesteg und lief seinem offenbar wohlbehaltenen Vater in die Arme. Auch er ging stramm auf die Vierzig zu, war jedoch, ähnlich wie Paul, eher schlank und sportlich.

      „Und, was gefunden?”, fragte Paul und kämpfte unter der Last der Bücher mit dem Gleichgewicht.

      „Nö, wie immer”, gab sein Vater resigniert zurück. Seit Jahren schon suchte und wühlte er nach Stürmen im angeschwemmten Tang nach Bernstein, aber gefunden hatte er, trotz zahlreicher Tipps von erfahrenen Helgoländern, bislang noch nichts. „Aber um so besser, so habe ich wenigstens die Hände frei, um dir mit deinen Büchern zu helfen. Was hast du denn mit all dem Kram vor? Du weißt, dass wir nur noch drei Tage hier sind? Wann willst du denn das alles noch lesen?”

      So viele Fragen.

      „Och”, druckste Paul herum. „Wollte nur was rumstöbern. Ein bisschen was über Atlantis lesen und so.”

      „Atlantis?” Ungläubig starrte sein Vater ihn an, während Paul ihm dankbar gut die Hälfte der Bücher in den Arm drückte. „Wie kommst du denn auf Atlantis?”

      „Nun ja, es heißt doch, Atlantis sei damals in der Nähe von Helgoland untergegangen und jetzt bin ich halt neugierig, ob da was dran ist.”

      „Über Helgoland weiß ich doch schon alles”, fügte er hinzu. „Und wenn nicht, haben wir doch noch ein wandelndes Lexikon zu Hause rumlaufen.”

      „In der Tat!”, meinte sein Vater grinsend. „Es gibt wohl kein noch so unbedeutendes Ereignis, das auch nur im entferntesten mit diesem wunderbaren Eiland zu tun hat, zu dem deine Mutter dir nicht sofort eine Doktorarbeit abliefern kann.”

      „Dabei bin ich doch sonst immer der Klugscheißer”, lachte Paul, froh über den Themenwechsel.

      „Nicht war, Justus Jonas?”, setzte sein Vater noch eins drauf. Paul neigte etwas dazu, seiner Umwelt mit seiner Besserwisserei auf den Nerv zu gehen, was ihm den Spitznamen eingebracht hatte. Auch der erste Detektiv der „Drei ???” war bekannt dafür, alles zu wissen und das vor allem besser als andere.

      Lachend betrat Paul mit seinem Vater die Wohnung, in der es bereits nach Abendessen duftete.

      „Na, geht’s wieder besser?”, erkundigte Pauls Mutter sich sogleich. Erstaunt sah sein Vater zu ihm hinüber. „Wieso, was war denn los?”

      Nicht noch einer, dachte Paul und rückte vorsorglich schon mal etwas auf Abstand, bevor sein Vater auch noch auf die Idee käme, seine Stirn nach Spuren von Fieber zu untersuchen.

      „Nix, alles in Butter”, gab er zurück und bemühte sich, einen möglichst gesunden Eindruck zu machen.

      Eine halbe Stunde später saßen alle drei gesättigt und zufrieden im Wohnzimmer, und während seine Eltern die Nachrichten sahen, schaute Paul noch einmal verstohlen aus dem Fenster. Mittlerweile war es allerdings so dunkel geworden, dass er selbst eine ganze Armee von den monströsen Rochusmenschen nicht mehr hätte erkennen können. Daher entschied er, sich erst einmal seiner Lektüre aus der Bücherei zu widmen, schnappte sich das erstbeste Buch und begann eifrig zu blättern.

      Doch es dauerte nicht lange, da musste er feststellen, dass zwar scheinbar jeder Schriftsteller, der etwas auf sich hielt, seine Theorie zum Thema auf Papier gebracht hatte, doch der Inhalt war eigentlich immer das Gleiche: Wiege der Menschheit, Basis für Außerirdische und deren Experimente, mythischer Ort, usw. Nichts Neues jedenfalls. Einer hatte sogar versucht, gleich alle Theorien miteinander zu verknüpfen, aber Paul merkte schnell, dass einer nur beim anderen abgeschrieben zu haben schien. Am glaubwürdigsten erschien ihm da fast noch eine These, die Wissenschaftler seit einiger Zeit verfolgten und die besagte, Atlantis könne auch ein Synonym für Troja sein.

      Das brachte ihn jedenfalls alles nicht weiter. Nichts von dem erklärte, warum hier auf einmal Feen und Dämonen auftauchten. Ärgerlich pfefferte er das Buch zurück neben den Stapel und griff nach dem nächsten. Darin ging es zwar nicht konkret um Helgoland, sondern eigentlich um die germanische Mythologie, aber der Name Fosite sagte ihm als Helgolandexperten natürlich etwas und so blätterte er interessiert darin herum.

      Fosite war den germanischen Sagen zufolge ein friesischer Friedensgott, den die Helgoländer bis zur Einführung des christlichen Glaubens lange Zeit verehrten. Nicht umsonst las man in alten Schriften über die Insel auch von Fositesland und Heiligland, bevor der Name Helgoland überhaupt auftaucht.

      Fosite, der Enkel des Göttervaters Odin, hielt sich demnach oft auf dem roten Felsen auf, wenn er auf Erden wandelte. Ja, er hatte die Insel sogar erst rot gefärbt, so dass es an seine Heimstatt Glanzheim im Himmel, der Asgard genannt wurde, erinnern sollte. Laut Pauls Lektüre ging sogar die Sage um, Fosite habe auch die vielen Vögel erschaffen, die man noch heute auf Helgoland beobachten konnte.

      Auch von den anderen Göttern war dort Interessantes zu lesen. Von der ewigen Feindschaft Odins mit dem listenreichen Loki, durch dessen Intrigen es letztlich zur sogenannten Götterdämmerung, dem alles umfassenden Weltenbrand gekommen sei. Loki, der mit der Riesin Angurboda drei Kinder gezeugt haben soll, war demnach die Totengöttin Hel, die Mitgardschlange und der Wolf Fenrir zu verdanken, die bis in heutige Zeit in vielen Geschichten auftauchen. Nur Atlantis tauchte in diesem Buch gar nicht auf.

      Noch einmal glitt Pauls Blick über das reich bestückte Bücherregal des Appartements. Im ersten Moment dachte er, seine Augen würden ihm einen Streich spielen. Nachdem er so viel über die sagenhafte Insel gelesen hatte, sah er überall nur noch diesen Begriff vor Augen: „Atlantis!"

      Aber das kleine blaue Bändchen, das da zwischen den Büchern steckte, trug tatsächlich den Titel „Atlantis’ Untergang - Der griechische Philosoph Plato und Nordfriesland."

      Rasch zog er das nur wenige Seiten umfassende Heft hervor und begann zu lesen. Das war genau das, wonach er gesucht hatte. Da stapelten sich hunderte Seiten dicke Bücher, die ihm nicht hatten helfen können und jetzt lag die Antwort auf seine Fragen womöglich in diesem unscheinbaren Büchlein.

      Es handelte von dem griechischen Philosophen Plato und seiner Theorie, nach der die Insel infolge einer Naturkatastrophe binnen einer Nacht im Meer versunken sei und der Ansicht anderer Denker, Plato habe Atlantis als Bild für eine fiktive, seiner Meinung nach perfekte Gesellschaft genutzt, die später einfach als Tatsache