Kim Scheider

Der rote Feuerstein


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stellte er fest, dass seine Mutter alleine war. Sie begrüßte ihn lächelnd und natürlich, wie immer, mit einem Buch in der Hand.

      „Na, mein Schatz, noch alle Namenlosen da?” Pauls Mutter war eine etwas rundliche und gemütliche Frau Ende dreißig, mit langen, schon leicht ergrauten Haaren und immer guter Laune.

      „Ja, ja, alle angetreten zum Rapport”, grinste Paul schwächlich zurück.

      Besorgt musterte seine Mutter ihn. „Was ist los mit dir, du bist so blass? Ist dir die Überfahrt nicht bekommen?”

      Musst du gerade sagen, dachte Paul entrüstet. Wer ist denn jedes Mal schon bei Windstärke zwei seekrank? Das bist doch wohl du! Aber er war auch dankbar für die mundgerechte Ausrede, also brummte er irgendeine unverständliche Zustimmung.

      Nur zur Sicherheit natürlich, schloss er gleich mal unauffällig alle Fenster. Nur für den Fall, dass es doch kleine Feen gab und nur für den Fall, dass diese noch mal versuchen könnten, Kontakt zu ihm aufzunehmen.

      „Möchtest du etwas essen? Oder einen Tee?”

      „Tee wäre gut.” Gedankenverloren goss er sich eine Tasse ein, nippte daran, verbrühte sich prompt und zog leise fluchend von dannen. Sein Blick fiel auf das Bücherregal, das, wie in jeder Ferienwohnung, die sie bisher bewohnt hatten, mit einschlägiger Helgoland-Literatur bestückt war und las die Titel.

      „Verwehte Spuren” von Benno Krebs, „Auf Helgoland ist alles anders” von H.P. Rickmers, Fotobände von Franz Schensky, Tatsachenberichte, Mythen und Sagen... Die hatte er, genau wie seine Mutter, schon längst alle verschlungen.

      Die einzige deutsche Hochseeinsel hatte schließlich eine interessante Geschichte zu bieten. Etwa sechzig Kilometer von der deutschen Küste entfernt, trotzte der rote Bundsandsteinfelsen seit tausenden Jahren den Stürmen der Nordsee und war im Laufe der Zeit auf ein Geringes seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft. Auch die einstige Verbindung zwischen der Hauptinsel und der vorgelagerten Düne war schon seit Jahrhunderten gebrochen und mittlerweile trennte die beiden eine breite Fahrrinne, in der die Seebäderschiffe im Sommer vor Anker lagen, während die Gäste das letzte Stück zur Insel mit dem “Inseltaxi”, den traditionellen Börtebooten, transportiert wurden.

      Im Laufe der Zeit gehörte die Insel mal den Dänen, mal den Engländern, bis hin zu den Deutschen. Unter deren Zugehörigkeit hatte die Insel in den beiden Weltkriegen einiges zu erdulden und war sogar zweimal vollständig evakuiert worden. Der „Big Bang” war dann trauriger Höhepunkt dieser Ereignisse und erst mit dem Wiederaufbau in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts konnte die Insel wieder besiedelt werden. Inzwischen war sie ein modernes Hochseebad geworden und bot unzähligen Urlaubern eine grandiose, einmalige Landschaft mit vielen seltenen Pflanzen und Tieren.

      All dies wusste Paul bereits über die Insel und ihm kamen auch wieder die Geschichten über Atlantis und Helgoland in den Sinn. Sollte die Insel tatsächlich sogar über einen Zugang zu diesem sagenumwobenen Ort verfügen? Was wusste er eigentlich über Atlantis?

      Die unterschiedlichsten Theorien hatte er schon gehört. Manche hielten es für die „Wiege der Menschheit”, von der alles Leben auf Erden ausgegangen sein soll. Andere waren davon überzeugt, die Menschen seien ein Experiment von Außerirdischen und deren Basisstation sei Atlantis gewesen. Filme hatte Paul gesehen, in denen das verschollene Eiland als mythischer Ort dargestellt wurde, wo Menschen und Meerjungfrauen zwischen altgriechisch anmutenden Gebäuden friedlich miteinander lebten und vom Meereskönig regiert wurden. Auch, dass es die verschiedensten Vorstellungen davon gab, wo Atlantis gelegen haben könnte, hatte er gehört. Eine davon war natürlich auch jene Sage, laut der das Eiland ganz in der Nähe von Helgoland gelegen haben soll. Gerade diese Theorie war ihm immer am unwahrscheinlichsten vorgekommen. Wie oft war er schon hier gewesen und hatte außer den Mythen nie etwas entdeckt, was wie eine Verbindung zwischen den beiden Inseln aussah. Und er hatte wahrlich jeden erreichbaren Winkel der Insel erkundet.

      Im Berginneren solle der Zugang liegen, hatte die Fee berichtet. Irgendwie wünschte er sich die kleine Fabelgestalt jetzt doch herbei. Hatte er doch mindestens tausend Fragen an sie. Zwar klammerte er sich noch immer an der Hoffnung fest, sich das alles nur eingebildet zu haben und vielleicht war er ja auch einfach nur kurz auf der Bank eingenickt, eingeschläfert von der beruhigenden Geräuschkulisse des ihn umgebenden Meeres und hatte geträumt.

      Bestimmt sogar.

      Aber seine Neugier war geweckt. Wieder befingerte er seine merkwürdig erwärmte Feuersteinkette und schaute durch das Fenster hinüber zur Düne. Und glaubte plötzlich, sein Herz bliebe stehen! Das dunkle, schwarze Etwas, das da über den Hügeln der Düne tobte, diese Mischung aus Ungeheuer, Dämon und Ausgeburt eines Alptraumes, das war mit Sicherheit kein Wolkenfetzen oder dergleichen.

      Es war, wie Vicki es angstvoll genannt hatte - und in Ermangelung eines passenderen Wortes nannte er es auch so - ein Rochusmensch.

      Paul rieb sich kräftig über die Augen und starrte noch einmal hin, doch der Anblick hatte sich nicht verändert. Mal abgesehen von den Sternchen, die er jetzt zusätzlich noch vom Reiben der Augen aufblitzen sah. Trotz der sicheren Entfernung zur Düne beschlich ihn sofort wieder die gleiche Angst vor dem grausigen Wesen, das ihn auch schon auf der Düne befallen hatte. Er war zwar weder ein Held noch ein besonders ängstlicher Typ, aber dieses Geschöpf war eindeutig einem Alptraum entsprungen und ganz und gar nicht geraten, Fröhlichkeit zu verbreiten.

      Er schaute zu seiner Mutter hinüber, die den uralten Rocksong, der gerade im Radio lief, mitträllerte, blickte zur Düne, sah den Rochusmenschen und sah wieder zu seiner Mutter. Auch sie hatte kurz aus dem Fenster gesehen, schien aber nicht wahrzunehmen, was sich da drüben abspielte. Vielleicht hielt sie es auch einfach für eine Laune der Natur. Dennoch bemerkte sie seinen fiebrigen Blick und wirkte etwas bestürzt.

      „Was ist denn nur los mit dir, mein Schatz? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!”

      Sollte er ihr etwa sagen, dass genau das sein Problem war? Kurz war er geneigt, ihr alles zu erzählen, von Prinzessin Vicki XII., von dem geheimen Zugang nach Atlantis und von dem Rochusmenschen. Doch eben dieser war nun verschwunden, wie Paul mit einem erneuten Blick zur Düne hinüber feststellen musste. Er schluckte einmal kräftig, bevor er antworten konnte. „Nee, nee, alles in Ordnung. Mir ist nur noch ein bisschen übel. Du weißt ja, die Überfahrt gerade.”

      „Ruh’ dich noch was aus und trink endlich deinen Tee, dann geht es dir bestimmt bald besser.”

      Sie lächelte Paul aufmunternd zu und ließ sich mit dem Buch in der Hand auf dem Sofa nieder.

      Sie hätte es mir sowieso nicht geglaubt, dachte Paul betrübt. Sie hätte mir nur wieder wohlwollend die Hand auf die Stirn gelegt, um meinen Fieberpegel zu testen und hätte mir gesagt, mit ein bisschen Bettruhe wäre alles wieder in Ordnung.

      Aber konnte er es ihr verübeln? Wer sollte ihm die Geschichte überhaupt glauben? Er war sich sicher, dass nicht einmal sein bester Freund Aman ihm das abgekauft hätte.

      „Wo ist eigentlich Papa?”, fragte Paul.

      „Auch zur Düne, Bernstein suchen.”

      Vor Schreck prustete Paul den halben Tee auf die Fensterscheibe, als ihm klar wurde, was seine Mutter da gerade gesagt hatte.

      „Paul!! Pass doch auf!”

      „T’schuldigung, war noch zu heiß”, beeilte er sich zu sagen und starrte gebannt rüber zur Düne, während er unbeholfen mit dem Ärmel den Tee auf der Scheibe verteilte.

      Entrüstet hielt seine Mutter ihm ein Wischtuch unter die Nase. „Kannst du bitte einen Lappen nehmen?”

      „T’schuldigung, t’schuldigung”, stammelte er vor sich hin und entfernte endlich die schmierigen Streifen von dem Fenster.

      „Was ist denn nur los mit dir? Du wirst doch nicht etwa krank?”

      Oh nein, jetzt tat sie es doch.

      Ehe Paul sich versah, hatte sie auch schon ihre Hand auf seine Stirn gelegt