Charles Dickens

Weihnachtsmärchen auf 359 Seiten


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ihren feiertäglichsten Gesichtern durch die Straßen. Und zu

       derselben Zeit strömten aus den Nebenstraßen und Gäßchen und

       namenlosen Winkeln zahllose Leute, die ihr Mittagessen in die

       Backstuben trugen. Der Anblick dieser Armen und doch so

       Glücklichen schien des Geistes Teilnahme am meisten zu erregen,

       denn er blieb mit Scrooge neben eines Bäckers Tür stehen, und

       während er die Deckel von den Schüsseln nahm, als die Träger

       vorübergingen, bestreute er ihr Mahl mit Weihrauch seiner

       Fackel. Und es war eine gar wunderbare Fackel, denn ein

       paarmal, als einige von den Leuten zusammengerannt waren und

       darüber heftige Worte fielen, besprengte er sie mit etlichen

       Tropfen Tau daraus, und ihre gute Laune war augenblicklich

       wiederhergestel t. Denn sie sagten, es sei eine Schande, sich am

       Weihnachtstag zu zanken.

       Jetzt schwiegen die Glocken, und die Läden der Bäcker wurden

       geschlossen: und doch schwebte noch ein Schatten von al en

       diesen Mittagessen und dem Fortgang ihrer Zubereitung in dem

       getauten, nassen Fleck über jedem Ofen; und vor ihnen rauchte

       das Pflaster, als kochten selbst die Steine.

       »Ist eine besondere Kraft in dem, was deine Fackel ausstreut?«

       fragte Scrooge.

       »Ja. Meine eigene.«

       »Und wirkt sie auf jedes Mittagsmahl an diesem Tag?« fragte

       Scrooge.

       »Auf jedes, sofern es gern gegeben wird. Auf ein ärmliches am

       meisten.«

       »Warum auf ein ärmliches am meisten?«

       »Weil das meiner Kraft am meisten bedarf«

       »Geist«, sagte Scrooge nach kurzem Nachdenken, »mich

       wundert's, daß du von allen Wesen auf den vielen Welten um uns

       herum wünschen sol test, diesen Leuten die Gelegenheit eines

       unschuldigen Genusses zu rauben.«

       »Ich?« rief der Geist.

       »Du willst ihnen die Mittel nehmen, jeden siebten Tag zu Mittag

       zu essen, und doch ist das der einzige Tag, wo sie überhaupt zu

       Mittag essen können«, sagte Scrooge.

       »Ich?« rief der Geist.

       »Du willst doch Backstuben und ähnliche Plätze am siebten Tag

       geschlossen halten - das kommt doch auf dasselbe heraus.«

       »Ich?« rief der Geist.

       »Verzeih mir, wenn ich unrecht habe. Es ist in deinem Namen

       »Verzeih mir, wenn ich unrecht habe. Es ist in deinem Namen

       geschehen oder wenigstens in dem deiner Familie«, sprach

       Scrooge.

       »Es gibt Menschen auf Eurer Erde«, entgegnete der Geist, die

       uns kennen wol en und die ihre Taten des Stolzes, der Mißgunst,

       des Hasses, des Neides, 39

       des Fanatismus und der Selbstsucht in unserm Namen tun; die

       uns in allem, was zu uns gehört, so fremd sind, als hätten sie nie

       gelebt. Bedenke dies und schreibe ihre Taten ihnen selbst zu und

       nicht uns.«

       Scrooge versprach es, und sie gingen weiter in die Vorstadt,

       unsichtbar wie bisher. Es war eine wunderbare Eigenschaft des

       Geistes (Scrooge hatte sie bei dem Bäcker bemerkt), daß er, bei

       seiner riesenhaften Gestalt, doch überal leicht Platz fand, und daß

       er unter einem niedrigen Dach ebenso schön und gleich einem

       übernatürlichen Wesen dastand, wie in einem geräumigen, hohen

       Saal.

       Vielleicht war es die Freude, die der gute Geist darin fühlte,

       diese Macht zu zeigen, viel eicht auch seine warmherzige,

       freundliche Natur und seine Teilnahme mit allen Armen, was ihn

       freundliche Natur und seine Teilnahme mit allen Armen, was ihn

       gerade zu Scrooges Kommis führte: denn er ging wirklich hin und

       nahm Scrooge mit, der sich an seinem Gewand festhielt. Auf der

       Schwel e stand der Geist lächelnd still und segnete Bob Cratchits

       Wohnung mit dem Tau seiner Fackel. Denkt doch! Bob hatte

       nur fünfzehn ›Bobs‹ die Woche; er steckte sonnabends nur

       fünfzehn seiner Namensvettern in die Tasche, und doch segnete

       der Geist der dies jährigen Weihnacht sein Haus.

       Im Zimmer stand Mr. Cratchits Frau in einem ärmlichen, zweimal

       gewendeten Kleid, schön aufgeputzt mit Bändern, die billig sind,

       aber für sechs Pence hübsch genug aussehen. Sie deckte den

       Tisch, und Belinda, ihre zweite Tochter, half ihr dabei, während

       Master Peter mit der Gabel in eine Schüssel voll Kartoffeln stach

       und die Spitzen seines ungeheuren Hemdkragens (Bobs

       Privateigentum, seinem Sohn und Erben zu Ehren des Festes

       geliehen) in den Mund nahm, voller Stolz, so schön angezogen zu

       sein, und voll Sehnsucht, sein weißes Hemd in den fashionablen

       Parks zur Schau zu tragen. jetzt kamen die zwei kleinen

       Cratchits, ein Mädchen und ein Knabe, hereingesprungen und

       schrien, daß sie an des Bäckers Tür die gebratene Gans

       gerochen und gewußt hätten, es sei ihre eigene, und in freudigen

       Träumen von Salbei und Zwiebeln tanzten sie um den Tisch und

       erhoben Master Peter Cratchit bis in den Himmel, während er

       (aber gar nicht stolz, obgleich ihn der Hemdkragen fast erstickte)

       in das Feuer blies, bis die Kartoffeln hochquollen und an den

       Topfdeckel klopften, daß man sie herauslassen und schälen

       möge.

       möge.

       »Wo nur der Vater bleibt?« fragte Mrs. Cratchit.

       Und dein Bruder Tiny Tim; und Martha kam vorige Weihnachten

       eine halbe Stunde früher.«

       »Hier ist Martha, Mutter«, sagte ein Mädchen, zur Tür

       hereintretend.

       »Hier ist Martha, Mutter«, riefen die beiden kleinen Cratchits.

       »Hurra, so eine Gans, Martha!«

       »Gott grüß dich, liebes Kind! Wie spät du kommst!« sagte Mrs.

       Cratchit, sie mehrmals küssend und ihr mit zutulichem Eifer Schal

       und Hut abnehmend.

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       »Wir hatten gestern abend viel zurecht zu machen«, antwortete

       das Mädchen,

       »und mußten heute mit al em fertig werden, Mutter.«

       »Nun, es schadet nichts, da du doch da bist«,