Charles Dickens

Weihnachtsmärchen auf 359 Seiten


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»Das ist's nicht«, sagte Scrooge, von dieser Bemerkung gereizt

       und wie sein früheres, nicht wie sein jetziges Selbst sprechend.

       »Das ist's nicht, Geist. Er hat die Macht, uns glücklich oder

       unglücklich, unsern Dienst zu einer Lust oder zu einer Bürde, zu

       einer Freude oder zu einer Qual zu machen. Du magst sagen,

       seine Macht liege in Worten und Blicken, in so unbedeutenden

       und kleinen Dingen, daß es unmöglich ist, sie herzuzählen: was

       schadet das? Das Glück, das er bereitet, ist so groß, als wenn es

       sein ganzes Vermögen kostete.«

       Er fühlte des Geistes Blick und schwieg.

       »Was gibt's?« fragte der Geist.

       »Nichts, nichts«, sagte Scrooge.

       »Aber doch etwas, wie?« drängte der Geist.

       »Nein«, sagte Scrooge, »nein. Ich möchte nur eben jetzt ein paar

       Worte mit meinem Kommis sprechen. Das ist al es.«

       Sein früheres Selbst löschte gerade die Lampen aus, als er

       diesen Wunsch aussprach, und Scrooge und der Geist standen

       wieder im Freien.

       »Meine Zeit geht zu Ende«, sagte der Geist. »Schnel !«

       Dieses letzte Wort war nicht zu Scrooge oder zu jemand, den er

       sehen konnte, gesprochen, aber es wirkte sofort. Denn wieder

       sah Scrooge sich selbst. Er war jetzt älter geworden -. ein Mann

       in der Blüte seiner Jahre. Sein Ges icht hatte noch nicht die

       schroffen, rauhen Züge seiner späteren Jahre, aber schon begann

       es Anzeichen der Sorge und des Geizes anzunehmen. In seinem

       Auge brannte ein ruheloses, habsüchtiges Feuer, das Zeugnis gab

       von der Leidenschaft, die dort Wurzeln geschlagen hatte, und

       zeigte, wohin der Schatten des wachsenden Baumes fal en

       würde.

       Er war nicht allein, sondern saß neben einem schönen jungen

       Mädchen in Trauerkleidern. In ihren Augen standen Tränen, die

       in dem Licht glänzten, das von dem Geist vergangener

       Weihnachten ausströmte.

       »Es ist ohne Bedeutung«, sagte sie sanft, »und für Sie von gar

       »Es ist ohne Bedeutung«, sagte sie sanft, »und für Sie von gar

       keiner. Ein anderes Götzenbild hat mich verdrängt; und wenn es

       Sie in späterer Zeit trösten und aufrecht erhalten kann, wie ich es

       versucht hätte, so habe ich keine Ursache zu klagen.«

       »Welches Götzenbild hätte Sie verdrängt?« erwiderte er.

       »Ein goldenes.«

       »Dies ist die Gerechtigkeit der Welt!« sagte er. »Gegen nichts ist

       sie so hart als gegen die Armut; und nichts tadelt s ie

       unnachsichtiger als das Streben nach Reichtum.«

       »Sie fürchten das Urteil der Welt zu sehr«, antwortete sie sanft.

       »Al e Ihre andern Hoffnungen sind in der einen aufgegangen, vor

       diesem engherzigen Vorwurf gesichert zu sein. Ich habe Ihre

       edleren Bestrebungen eine nach der andern verschwinden sehen,

       bis Sie ganz die eine Leidenschaft, die Gier nach Gold, erfül te.

       Ist es nicht so?«

       »Und wenn es so wäre?« antwortete er. »Wenn ich soviel klüger

       geworden wäre, was dann? Gegen Sie bin ich nie anders

       geworden.«

       Sie schüttelte den Kopf.

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       »Bin ich anders?«

       »Unser Bund ist alt. Er wurde geschlossen, als wir beide arm und

       zufrieden waren, unser Los durch ausdauernden Fleiß verbessern

       zu können. Sie haben sich aber verändert! Damals, als er

       geschlossen wurde, waren Sie ein anderer Mensch.«

       »Ich war ein Knabe«, sagte er ungeduldig.

       »Ihr eigenes Gefühl sagt Ihnen, daß Sie nicht so waren, wie Sie

       jetzt s ind«, antwortete sie. »Ich bin noch dieselbe. Das, was uns

       Glück versprach, als wir noch ein Herz und eine Seele waren,

       muß uns Unglück bringen, da wir im Geiste nicht mehr eins sind.

       Wie oft ich und wie bitter dies gefühlt habe, will ich nicht sagen;

       es ist genug, daß ich es gefühlt habe und daß ich Ihnen Ihr Wort

       zurückgeben kann.«

       »Habe ich dies jemals verlangt?«

       »In Worten? Nein. Niemals.«

       »Wie dann?«

       »Durch ein verändertes Wesen, durch einen andern Sinn, durch

       andere Bestrebungen im Leben und durch andere Hoffnungen -

       in allem, was meiner Liebe in Ihren Augen Wert gab. Wenn alles

       Frühere nicht zwischen uns geschehen wäre«, sagte das

       Mädchen, ihn mit sanftem, aber festem Blicke ansehend,

       »würden Sie mich jetzt aufsuchen und um mich werben? Gewiß

       nicht!«

       nicht!«

       Er schien die Wahrheit ihrer Worte wider seinen Wil en

       zuzugeben. Aber er tat seinen Gefühlen Gewalt an und sagte:

       »Sie glauben nicht?«

       »Gern glaubte ich es, wenn ich könnte«, sagte sie, »Gott weiß es.

       Wenn ich eine Wahrheit wie diese erkannt habe, weiß ich, wie

       unwiderstehlich sie sein muß. Aber sol ich glauben, daß Sie ein

       armes Mädchen wählen würden, wenn Sie heute oder morgen

       oder gestern frei wären, Sie, der selbst in den vertrautesten

       Stunden al es nach dem Gewinn mißt? Oder sol ich mir

       verhehlen, daß Sie gewiß einst sich getäuscht und bittere Reue

       fühlen würden, weil Sie für einen Augenblick Ihrem einzigen

       leitenden Grundsatz untreu werden? Nein, und deswegen gebe

       ich Ihnen Ihr Wort zurück: wil ig und um der Liebe dessentwillen

       der Sie einst waren.«

       Er wol te sprechen, aber mit abgewendetem Gesicht fuhr sie fort:

       »Vielleicht - der Gedanke an die Vergangenheit läßt es mich fast

       hoffen - wird es Sie schmerzen. Eine kurze, sehr kurze Zeit, und

       Sie werden dann die Erinnerung daran fallenlassen, wie die

       Gedanken an einen nichtigen Traum, aus dem zu erwachen ein

       Glück für Sie war. Möge Sie alles Glück auf dem gewählten

       Lebensweg begleiten!«

       Sie schieden.

       Sie schieden.

       »Geist«, sagte Scrooge, »zeig mir nichts mehr, führ mich nach

       Hause. Warum erfreust du dich daran, mich zu quälen?«