Rainer Holl

Flut über Peenemünde


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des Rätsels Lösung heißt Die Scholle, ist eine Gaststätte am Peenemünder Hafen. Wenn man dort sitzt und das Museum im Rücken hat, bläst der Wind im Augenblick von vorn.“ Lächelnd blickte sie ihn an. „Wollten Sie mich vielleicht gerade dorthin einladen?“

      Schmidt konnte kaum verbergen, wie überrumpelt er sich fühlte. „Sie nehmen mir mit Ihrer Ungeduld das Wort aus dem Mund. Außerdem bin ich Ihnen ja noch etwas schuldig“, begründete er die nun unvermeidliche, aber angenehme Einladung. „Halten Sie den Gegenwind bis dorthin aus oder wollen wir mit meinem Auto fahren?“, versuchte er mit einem freundlich-hinterhältigen Lächeln zu punkten.

      „Ich kann Ihnen in Ihrer Position ja wohl kaum zumuten, in meinem zerbeulten Wagen Platz zu nehmen, und es weiß ja niemand, dass Sie selbst den Schaden verursacht haben“, parierte sie. „Ich fahre aber lieber mit meinem Auto rechtzeitig vom Museumsgelände, also treffen wir uns dort und stellen uns gemeinsam dem Wind“, machte sie dem Geplänkel vorerst ein Ende.

      Pia freute sich auf die Herausforderung der kommenden Begegnung. Der Mann strahlte eine unaufdringliche Zielstrebigkeit aus, konnte zwischen den Zeilen denken und formulieren, ohne dass diese Fähigkeit dabei kalt und distanziert als Ergebnis von Kommunikationstraining erschien, was in seiner Branche eher die Regel als die Ausnahme ist. Bisher hatten sich alle ihre, wie sie zugeben musste, leicht träumerisch beeinflussten Erwartungen an diesen Mann bestätigt. Pia spürte eindeutige Signale aus ihrem Körper. Sie wurde immer entschlossener darin, ihnen etwas Auslauf zu gönnen.

      Bei ihrer Ankunft in der Scholle ließ Schmidt Pia den Vortritt. „Sollen wir das Probesitzen hier draußen überspringen und uns gleich innen ans Fenster setzen?“

      „Also Stille statt Wind im Gesicht?“, gab sich Pia aber nicht geschlagen.

      „Wie wär’s mit Gedankentiefe statt Äußerlichkeiten?“, kam es von Schmidt zurück.

      Der Mann hielt Pias prüfendem Blick stand, suchte die Offensive und wechselte dazu das Sujet. „Wenn wir so weitermachen, steuern wir auf ein Remis zu. Ich bin aber eher für die Suche nach kreativen Positionen für…“ er suchte nach einer originellen Fortsetzung, „…Dame und König.“

      „Sind wir jetzt also beim Schach … Spiel?“ Pia ließ zwischen den beiden letzten Wörtern eine kleine Pause. Schmidt lächelte nur.

      Nach kurzer Überlegung setzte Pia fort: „Was wären aber … Dame und König … ohne Bauern und Offiziere? Außerdem gibt’s beim Schach ja nur schwarz und weiß“, versuchte Pia, dem Gespräch etwas von dieser unbestimmten Substanz zu erhalten. „Von den Bauern ist hier nur noch einer übrig, wie ich gehört habe, Offiziere, genauer gesagt ehemalige, dafür umso mehr.“

      Inzwischen hatten sie in dem mit einfachen Tischen und Stühlen eingerichteten Gastraum Platz genommen. Der Fensterplatz gab zwar den Blick auf den Hafen mit dem großen Museums-U-Boot und dem Fischkutter frei, aber beide Gesprächspartner waren ganz auf ihr spannendes Gespräch konzentriert.

      Jetzt erst fiel Pia auf, wie unnatürlich das förmliche Sie gegenüber dem immer vertrauter werdenden Gesprächsverlauf wirkte. Außerdem war sie es aus Schweden gewöhnt, dass sich alle duzten und mit Vornamen anredeten. „Ich heiße übrigens Pia, und du?“

      „Andreas“, sagte Schmidt und reichte Pia instinktiv und dann doppelt angenehm berührt die Hand.

      „Ja, ich habe davon gehört, ich meine von den Offizieren“, nahm er den Gesprächsfaden wieder auf. „Und, es gibt ja sowohl schwarze wie auch weiße Offiziere, wenn du weißt, was ich meine. In unserer Familiengeschichte spielt ein Offizier eine entscheidende, gewissermaßen eine schwarze Rolle, aber zu der Zeit war er noch keiner.“

      Pia akzeptierte, dass es zunächst bei Andeutungen bleiben würde. Andreas wollte aber wohl nicht ganz von diesem Thema lassen. „Familie scheint ja heute ein überholter Begriff zu sein, woran ich aber zweifle. Es wird vielleicht nur anders definiert.“

      Pia blickte ihn erwartungsvoll an, als er fortsetzte. „Nicht formale Papiere sind entscheidend, sondern das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Verwandten im weitesten Sinne. Und das hält in der Regel alle Belastungen aus.“

      Bei ihrer nächsten Frage ritt Pia der Teufel. „Und wie groß ist deine Familie, wenn ich mal neugierig sein darf?“ Andreas lächelte hintergründig, ehe er antwortete. „Kommt auf die Definition an. Eigentlich ziemlich groß, aber wenn du mit dieser Frage etwas herausbekommen möchtest… Ich habe keine Frau an meiner Seite, in der Familie meine ich.“

      Pia lächelte zurück, wollte die aufkommende Unsicherheit mit einer spontanen Antwort überspielen. „Ich auch nicht.“ Auf Andreas‘ fragenden Blick setzte sie verstehend hinzu: „Und auch keinen Mann.“

      Nun lachten beide über ihre unbeholfene Kommunikation. Andreas fasste sich als erster. „Jetzt drängt sich natürlich eine weitere Frage auf.“ Pia hörte erstaunt zu. „Und die wäre?“

      „Können wir beide auch auf eine Art von Gemeinsamkeit zurückgreifen?“

      „Oh, das ist ein weites Feld, würde ein deutscher Dichter sagen, oder eine seiner Figuren.“

      „Bleiben wir doch in der Region. Gibt es hier einen regionalen, also quasi familiären Zusammenhalt?“

      Pia hatte eine ganz andere Richtung erwartet und konnte mühsam ihre Enttäuschung verbergen.

      „Ich meine auf dieser lokalen Ebene? Wenn man sich fast täglich über den Weg läuft, entsteht doch daraus ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl, fast wie in einer Familie.“ Gespannt blickte er Pia an, aus seinen Augen sprach auffallendes Interesse an diesem Thema. „Wenn es um die Region geht, sollten doch alle zusammenstehen, sogar über Familiengrenzen hinweg, von den Parteien ganz zu schweigen.“

      Pia wusste nicht, was ihr Gesprächspartner meinte.

      „Hast du vielleicht von den Gerüchten zum Thema Deich gehört?“

      „Zum Beispiel“, kam es unsicher zurück.

      „Vielleicht sollten wir uns dazu lieber in die Landschaft begeben, auch wenn sie so stürmisch geworden ist? Und außerdem“, sie begann in der Speisekarte zu blättern, „gibt es ja noch andere Themen zwischen … Dame und König. Oder hatte ich das Bild vorhin falsch verstanden?“, grinste Pia ihren Gesprächspartner an. „Der Dame gefällt es jedenfalls“, setzte sie vieldeutig hinzu. Andreas reagierte sofort. „Wenn ich mich jetzt als König bezeichne, würde das die Dame bestimmt missverstehen, deshalb ziehe ich Gentleman vor und weite die Einladung zu einem gemütlichen Essen aus. Mit dem Aperitif sollten wir auf unsere Bekanntschaft und hoffentlich noch viele solcher Gespräche anstoßen.“

      Pia registrierte zufrieden, dass sie das Gespräch wieder mehr personalisiert hatte und beließ es bei einem sanften Lächeln als Antwort. Ihr Innerstes war dabei, von Kontrolle auf Genießen umzuschalten. Die Stimme des Mannes passte zum Äußeren, und auch der Intellekt stellte für sie eine Herausforderung dar, der sie sich jedoch gewachsen fühlte. Andreas war von deutlich anderem Format als Nils Pettersson. Sie war offensichtlich dabei, Zugang zu einem interessanten Menschen zu finden. Sie fand es auch nicht schlimm, dass sie nicht alle seine Andeutungen gleich verstand.

      13 Freitag, 2. November, 16.45 Uhr

      Nein, das Gefühl, sich in eine Sackgasse zu begeben, wollte Arne Bock nicht an sich heranlassen. Noch nicht. Dennoch spürte er widerwillig, dass die fehlenden Fortschritte der Ermittlung wie eine dicke Teigmasse seine anfängliche Hochstimmung immer mehr niederdrückten. Er musste sich davon befreien, oder den Teig in einen genießbaren Kuchen verwandeln.

      Das originelle Wortspiel erinnerte ihn wieder an seine Kreativität, die er oft an sich bemerkt hatte, die es einfach abzurufen galt.

      Er brauchte Impulse.

      Erneut rief er seine beiden Ermittlerkollegen zu sich.

      „Wir brauchen den Anfang des Fadens“, stellte er gleich zu Beginn klar,