Rainer Holl

Flut über Peenemünde


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Nachdenken fiel es ihr ein. Hier standen keinerlei Zimmerpflanzen. Entweder scheute Walter die Pflege und wollte seine Frau nicht unnötig oft ins Zimmer lassen, oder ihm fehlte der Sinn für Natur. Sie konnte sich für keine der beiden Varianten entscheiden.

      Arnes Blick fiel auf einen kleinen Stapel von Fotos auf dem Büroschrank. Ohne zunächst ein bestimmtes Ziel zu haben, fragte er Erika. „Dürfen wir die Fotos mitnehmen? Vielleicht ergibt sich daraus ein Anhaltspunkt, wir müssen jeder Spur nachgehen.“ Erika nickte nur teilnahmslos.

      Arne machte mit seiner kleinen Kamera noch Aufnahmen vom Zimmer. Eine der Grafiken fiel ihm beim flüchtigen Betrachten auf, denn sie zeigte in kunstvoller, an asiatische Maltechniken erinnernder Darstellung ein ungewöhnliches Symbol. In der Mitte eines Kreises war senkrecht ein Dolch dargestellt, um den sich eine Schlange wand. Arne glaubte, etwas Ähnliches schon einmal gesehen zu haben, vor ganz kurzer Zeit.

      Mit großen Augen verfolgte Erika die Prozedur und das Interesse der Polizisten.

      „Wissen Sie, ob die Grafik hier schon lange hängt? Und was die Symbolik bedeuten soll?“, wandte sich Arne an Erika und bemühte sich, sein Interesse daran herunter zu spielen.

      „Nein, ich bin sowieso sehr selten in Joachims Zimmer, und wenn, dann ist sie mir nicht besonders aufgefallen.“

      Arne und Rita tauschten kurze Blicke, begleitet von leichtem Schulterzucken und unmerklichem Kopfschütteln. Arne wandte sich an die Hausherrin. „Vielen Dank Frau Walter, ich denke, das war es für heute. Bitte halten Sie sich zu weiteren Befragungen bereit. Wir werden alles tun, um Ihren Mann wiederzufinden.“

      Mit diesen Worten verabschiedeten sich Arne Bock und Rita Mesing von Erika Walter und fuhren davon.

      Für Erika wurde der Fall jetzt noch rätselhafter, wozu auch das in ihren Augen geheimnisvolle Benehmen der Polizisten im Arbeitszimmer beitrug. Sie hatten ihr bestimmt nicht alles erzählt, was sie wussten oder vermuteten.

      Hatte Joachim sich etwa Feinde gemacht? Dass er in seiner Position nicht nur von Freunden umgeben war, konnte sie sehr gut nachvollziehen. Auch Erika bekam einige Andeutungen mit, wenn Joachim über Dinge sprach, die ihn bewegten. Wenn es auch sehr selten vorkam.

      Oder wuchs ihm doch sein Amt über den Kopf? Wieder musste sie an die aktuellen Meldungen der Zeitung denken.

      Kurz entschlossen zog Erika sich an und ging hinaus. Sie brauchte Ablenkung. Nach einer halben Stunde hatte sie den Strandzugang erreicht, die dortige Uhr zeigte 11.05 Uhr. Erstaunt registrierte Erika am Turm die Wassertemperatur von immerhin noch 10 Grad. Sie wandte sich nach links, dorthin, wo nach drei Kilometern der Schilfgürtel dem Sandstrand ein natürliches Ende setzte. Der stark aufgefrischte Westwind konnte den um diese Tageszeit wenigen Strandspaziergängern kaum etwas anhaben, denn sie wurden durch den Wald geschützt. Das hier sowieso schon flache Wasser hatte der Wind noch weiter ins Meer getrieben, so dass der Strand dadurch um zwanzig bis dreißig Meter breiter wurde. Ein Windwatt war entstanden. Sehr zur Freude der vielen kleinen Vögel, die im freiliegenden Ufersand nach Nahrung suchten. Erika hatte sie erst hier kennengelernt und im Naturschutzzentrum direkt auf der Düne erfahren, dass es sich um Strandläufer handelt.

      Erikas Blick ging unwillkürlich nach oben, etwas in ihren Augenwinkeln bewog sie dazu.

      Dort sah sie den Seeadler. Er flog hier regelmäßig seine Kreise. Dem großen Vogel schien der starke Wind nichts anhaben zu können. Etwas weiter entfernt sah sie ein zweites Exemplar. Erika wusste, die Seeadler beginnen die neue Familienplanung schon im Herbst. Ihre Gedanken wurden vom Wort Familie festgehalten. Etwas wehmütig dachte sie darüber nach, dass trotz aller Probleme Joachim der einzige Mensch war, der ihr nahe stand. Er war weder durch ihre Frauenrunde noch durch die weit weg wohnenden Eltern zu ersetzen. Mit Erstaunen stellte sie bei sich eine aufkommende Sorge um ihren Ehemann fest. Die Distanz war wohl viel geringer, als sie es sich selbst seit Jahren eingeredet hatte. Und erst durch eine Ausnahmesituation wurde sie förmlich darauf gestoßen. Gerade diese Überlegungen nährten eine Befürchtung, die in ihrem Inneren erwachte. Hatte Joachim etwa ein Geheimnis? Lag hier die Erklärung für sein Verschwinden? So diffus, wie diese Gedanken entstanden, so wenig greifbar waren sie in diesem Augenblick. Erika schaffte es, sie zu verdrängen.

      Eine erste Auswertung der beiden Ermittler während der Autofahrt verlief ergebnislos. Für einen Zusammenhang zwischen der Wasserleiche und dem vermissten Bürgermeisters waren keinerlei Anhaltspunkte zu erkennen.

      Auch zum Verschwinden des ehemaligen Offiziers einen Monat zuvor wäre ein Zusammenhang anhand von Fakten bisher nicht herzustellen und deshalb reine Spekulation. Andererseits durften sie nichts ausschließen, auch wenn die beiden Vermissten aus völlig verschiedenen Kreisen stammten.

      Arne ging das Thema Ehe nicht aus dem Kopf. „Sag mal, du erfahrene Kollegin, hast du in deiner langen Ehe auch nur die üblichen Probleme wie die Frau Walter? Welche könnten das denn sein? Ich frage natürlich aus rein beruflicher Neugier“, fügte er nach einem Seitenblick auf Ritas gerunzelte Stirn hinzu. „Beruflich… solltest du dich beim Urteil über fremde Ehen lieber an einen Fachmann wenden, oder eine Fachfrau. Und was meine eigene betrifft, das geht eben nur mich etwas an.“

      Arne besänftigte seine Nachbarin. „Ich will dir ja keine Indiskretionen entlocken, schon aus männlicher Höflichkeit.“ „Soso, du bist das also, der höfliche Mann. Der ist übrigens international zur Fahndung ausgeschrieben, bisher erfolglos. Wie lange bist du verheiratet? Fünf Jahre?“

      „Acht.“

      „Donnerwetter. Den Spruch mit den sieben Jahren lass ich jetzt mal weg, aber lass dir eines sagen.“ Hintergründig lächelnd blickte Rita ihren Chef an. „Niemand ist vor Überraschungen sicher.“

      „Oh, danke, dass du mich von deiner riesigen Erfahrung zehren lässt.“

      „Schon gut. Aber im Ernst. Erzähl mir bitte nicht, dass es in deiner Ehe keinerlei Probleme gibt. Wie groß die wirklich sind, welche Konsequenzen sie haben, merkst du erst dann, wenn sie überwunden sind, oder auch nicht.“

      Unmerklich war Rita nun doch in den mütterlich-belehrenden Tonfall geglitten, der von ihrem Mann immer mit wortlosem Lächeln beantwortet und dadurch schließlich ausgemerzt worden war. Aber nicht alle Ehepartner wären zu einer solchen Konzentration auf das Wesentliche, auf den festen Stamm einer Beziehung fähig, die so manchen kleinen „Querast“, wie sie es nannte, verdorren ließ.

      „Dann kapituliere ich als Ehe-Grünschnabel und sehe der weiteren Entwicklung gelassen entgegen.“ „Meinst du jetzt deine Ehe oder die Ermittlung?“ Arne schaute nach rechts, begann mit einem leisen Lächeln, das dann mit dem von Rita zusammen in ein lautstarkes Lachen mündete.

      In die Überzeugung von seiner fachlichen Überlegenheit mischten sich hin und wieder solche Momente einer zunehmenden Vertrautheit mit Rita Mesing.

      Sie könnte meine Mutter sein, dachte Arne, dem ihre Souveränität imponierte. Ein anderes Wort fiel ihm nicht ein.

      Und attraktiv ist sie immer noch, stellte er überrascht fest.

      Noch vor dem Mittag waren sie zurück in Wolgast.

      Arne brachte die Zahnbürste für die DNA-Analyse selbst ins Labor. Ihm lagen schon fordernde Worte über die Dringlichkeit der Untersuchung auf den Lippen, als er merkte, wer Dienst hatte und er ein anderes Vorgehen wählte.

      „Sag mal, Cornelia, kannst du dir die Freude eines bestimmten Kriminalhauptkommissars vorstellen, wenn er noch heute ein Ergebnis in der Hand hat? Oder noch besser, die Freude einer liebenden Ehefrau, wenn sie erfährt, dass das Blut im Auto ihres Mannes nicht von ihm selbst stammt?“

      Dem Wort „liebend“ gab Bock eine leicht spöttische Färbung, die die Laborantin wohlwollend zur Kenntnis nahm, sich aber in diesem Fall über die Ursache täuschte.

      Cornelia Machnit, verheiratet und noch kinderlos, reagierte erfahrungsgemäß sehr empfänglich für Schmeicheleien und war für Arne schon oft die Rettung in höchster Zeitnot. Sie lächelte charmant zurück. „Weißt Du eigentlich schon, wie und wann du alle meine guten Taten für dich wieder gutmachen kannst? Hast