Rainer Holl

Flut über Peenemünde


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seinen Tribut, wie ihm auch das Spiegelbild bestätigte.

      Im seinem Büro am Marktplatz der Stadt Usedom, die der Insel einst den Namen gab, stand heute das Telefon nicht still. Die Gedanken an den Grund dafür beherrschten ihn immer noch und hatten den Triumph seiner Laufbahn völlig in den Hintergrund gedrängt.

       Joachim Walter wurde zwei Tage zuvor als der erste Bürgermeister der neu geschaffenen Gemeinde Insel Usedom in sein Amt eingeführt. Ausgerechnet er, ein Zugereister. Stolz erfüllte ihn. Als Ort der Festlichkeit hatte der frisch gewählte Amtsträger das große Hotel Baltischer Hof in Zinnowitz gewählt.

       Die Gedanken an den Weg zu diesem Amt schufen das Gerüst für ein beinahe melancholisches Wohlgefühl, mit dem er den Festakt bestritt. Das Bewusstsein, im letzten und wohl bedeutendsten Abschnitt seines Berufslebens angekommen zu sein, erfüllte jede Faser seines Körpers.

       Der Regionalsender ARGUS-TV aus Wolgast zeichnete die gesamte Veranstaltung auf. Zum Abschluss der Zeremonie füllten seine würdevollen Worte den Raum, wurden von den modern gefärbten Wänden in jeden Winkel geworfen, so dass sich keiner der Anwesenden ihnen entziehen konnte. „Ich versichere Ihnen, verehrte Anwesende, dass ich meine ganze Kraft…“, die beiden letzten Worte artikulierte er auch mit einer solchen, „in den Dienst der neuen Gemeinde Insel Usedom stellen werde.“

       Mitten hinein in den einer Sinfonie ähnelnden Nachklang ertönte plötzlich eine Dissonanz mit schmerzhafter Frequenz.

      „Herr Bürgermeister, wie stehen Sie zu den neuen Plänen, den Deich am Peenestrom abzureißen?“ Im Saal breitete sich schlagartig Stille aus. Die knisternde Spannung des Augenblicks entlud sich wie durch einen Funkenschlag zu einem Nichts. Walters Gemütszustand sank wie ein Stein, die Gesichtszüge entgleisten und blieben in dieser Position für Sekundenbruchteile eingefroren. Seine Verhaltensreflexe als Beamter waren schnell wieder aktiv und zauberten ein Lächeln in seinen Blick, das aber um die Augen einen großen Bogen machte. Fieberhaft suchte er nach der passenden Reaktion.

       Der Moderator der Feier kam ihm zuvor, erhob sich würdevoll und sandte einen energischen Blick zu dem Zwischenrufer.

      „Herr… ich kenne Ihren Namen leider nicht, haben Sie bitte Verständnis dafür, dass heute keine Diskussion vorgesehen ist.“

       Hier griff Joachim Walter aber schon ein. „Herr Henkelmann, Ich kann Sie beruhigen, bitte kommen Sie im Anschluss zu mir.“

       Walter kannte den ehemaligen Offizier als Vorsitzenden des Heimatvereins Peenemünde.

       Der Moderator löste die Situation auf, indem er die Anwesenden zum Büffet in den Nebenraum bat. Auf dem Wege dorthin trat ein elegant gekleideter etwa sechzigjähriger Mann zu Walter und sprach ihn direkt an. „Einen Moment bitte, Herr Walter.“ Er überreichte ihm seine Visitenkarte und blickte ihm in die Augen. Walter murmelte leise den Namen vor sich hin. „Erich Bernecker, Referent der Staatskanzlei…“, um dann mit fester Stimme zu fragen: „Was kann ich für Sie tun?“ Bei den letzten Worten blickte er sein Gegenüber neugierig an.

       Bernecker ignorierte die Frage. „Sie müssen unter allen Umständen dieses Gerücht über einen Deichabriss aus der Welt schaffen, ich werde darüber gleich nach dieser Veranstaltung noch mit Ihnen reden.“ Damit wandte sich Bernecker wieder ab, gerade rechtzeitig, um den Zwischenrufer Reinhard Henkelmann, der an Walter herantrat, nicht mithören zu lassen.

       Dieser sprach den neu gewählten Bürgermeister an: „Bitte entschuldigen Sie meine etwas forsche Art, aber was können Sie mir denn auf meine Frage antworten?“

       Walter hatte sich wieder völlig unter Kontrolle, schaute den Fragesteller mit entschlossener Miene an.

      „Sie können gänzlich unbesorgt sein, ich kenne keine solchen Pläne. Mich würde aber interessieren, woher diese Gerüchte kommen. Gerade in meiner Funktion habe ich ein großes Interesse daran, jegliche Unruhe zu vermeiden. Und ich hege übrigens große Wertschätzung für die Arbeit Ihres Vereins“, fügte er hinzu, ohne zu merken, dass es eine Floskel für solche Gelegenheiten war.

       Skeptisch blickte Henkelmann Joachim Walter ins Gesicht, konnte aber keinerlei Unsicherheit darin erkennen.

       Er hatte die Information aus ganz sicherer Quelle und wusste nun, dass sein Gegenüber entweder nichts davon wusste oder log. Beides sprach nicht für ihn.

      „Vielen Dank für diese Antwort, ich werde mich bemühen, Ihnen dazu die nötigen Informationen zu geben. Sie werden in jedem Fall noch von mir hören.“

       Mit diesen Worten drehte sich Henkelmann um und ließ den Bürgermeister stehen. Joachim Walter kannte frühere Pläne zum Deichrückbau. Nachdem jedoch 1999 die rasch gebildete Bürgerinitiative unter Vorsitz eben dieses Reinhard Henkelmann einen Sturm der Entrüstung dagegen entfaltete, wurde das Projekt in der Landeshauptstadt Schwerin sofort gestoppt.

       Walter sah in den Worten Henkelmanns eine Bestätigung für Gerüchte, von denen er gehört hatte. Er musste unbedingt die Aktionshoheit und die nötige Übersicht über diese Angelegenheit zurückgewinnen.

       Missmutig sah er Erich Bernecker auf sich zukommen. Sporadische Kontakte mit dieser Art von Beamten gab es je nach Bedarf, sie hatten bisher seiner Karriere nicht geschadet. Dennoch beugte sich Walter nur widerwillig solcher „indirekten Demokratie“, wie er es in höflicher Abwandlung für sich bezeichnete. Bernecker kam ohne Umschweife auf den Punkt.

      „Sie kennen die Erfahrungen mit dem ersten Versuch, dieses Projekt umzusetzen.“ Walter schwieg dazu mit eisiger Miene. Bernecker setzte fort. „Wir haben uns jetzt für einen anderen Weg entschieden. Details sind noch nicht festgelegt. Die Absichten haben aber offensichtlich schon den Weg nach außen gefunden, deshalb muss ich zu Ihnen jetzt ganz offen sein.“ Er ließ unausgesprochen, wer mit „wir“ gemeint war, Walter war sich jedoch darüber ziemlich sicher. „Mit dem Projekt sind wichtige Landesinteressen verbunden.“ Walter hörte immer noch schweigend zu, neugierig auf die Begründung. Der herablassende Tonfall in Berneckers Worten widerte ihn an. „Sie wissen, dass die Europäische Natur-Stiftung sich sehr für die Renaturierung von ehemaligen Moorgebieten einsetzt. Eine beträchtliche Summe an Fördermitteln kann im Zusammenhang damit ausgereicht werden.“

       Walter lächelte still in sich hinein, denn aus kurzzeitiger Tätigkeit in der Landesvertretung bei der EU in Brüssel kannte er Manuela Wellers, eine Mitarbeiterin dieser Stiftung. Und ihre Kontakte, an deren private Ausweitung er sich besonders gerne erinnerte, waren seitdem nie ganz abgerissen.

      „Auf diese finanziellen Mittel wollen und können wir nicht verzichten, zum Wohle der Region“, setzte Bernecker fort. „Ihnen sollte auch klar sein, in welchem Maße die gesamte Insel Usedom davon profitieren kann. Das ist übrigens nicht schlecht für Sie als Amtsträger. Voraussetzung ist allerdings, dass nichts davon vorher nach außen dringt. Sie müssen unbedingt alle Gerüchte abweisen und die Öffentlichkeit in Sicherheit wiegen.“

       Joachim Walter war entsetzt darüber, wie direkt sein Gegenüber ein Handeln forderte, das ganz offensichtlich weit abseits der Gesetze angesiedelt war.

      „Herr Walter, ich sehe in Ihrer Mimik einen Ansatz, der mir nicht gefällt.“

       Erschrocken unterbrach Walter seine Gedankengänge. Hatte er Bernecker unterschätzt? „Wir haben für Sie in unseren Plänen eine aktive Rolle vorgesehen.“ Bernecker blickte Walter durchdringend an, verzog keine Miene.

      „Details werden Sie rechtzeitig erfahren, wir wissen aber genau, dass Sie die Aufgabe, die wir für Sie vorgesehen haben, erfüllen können.“

       Er glaubte, immer noch Ablehnung in Walters Blick zu erkennen und fügte hinzu: „Und auch erfüllen werden.“

       Die unverhüllte Drohung, in entsprechend machtbewusstem Tonfall vorgetragen,