Rainer Holl

Flut über Peenemünde


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kann mich nicht so gut in einen Aasfresser hineinversetzen“, gab Arne zurück, während er seine Mundwinkel leicht nach außen zog.

      „Geben denn Bissspuren Anhaltspunkte auf ein bestimmtes Tier?“ Auch Siegfried beteiligte sich an der Rätselei.

      „Nein.“ Arne fand dafür im Bericht keinen Ansatz.

      In diesem Moment fiel ihm der Seeadler ein, den er bei seinen Besuchen auf der Insel regelmäßig beobachten konnte. Er wollte jedoch die Spekulationen nicht weiter auffächern. „Die Spurensicherung hat übrigens keine Hinweise darauf ergeben, ob der Tatort in der Umgebung oder ganz woanders zu vermuten ist. Wir haben also viele Lücken zu schließen“, stellte Arne fest.

      „Den Zeitpunkt des Todes datiert die Pathologin auf den 30. Oktober zwischen 12 und 24 Uhr. Es ließ sich nicht mit ausreichender Genauigkeit feststellen, wie lange die Frau schon tot war, ehe sie ins Wasser gelegt wurde. Daher die lange Frist.“ Arne unterbrach kurz, registrierte die Anspannung seiner Mitstreiter und setzte fort.

      „Im Blut fand sich ein Alkoholgehalt von 0,5 Promille, passend dazu im Magen Reste von Rotwein. Über die Sorte steht hier nichts.“

      Keiner nahm das Lächeln von Arne auf.

      „Und“, Arne hob die Augen und sah mit der Gewissheit in die Runde, jetzt mehr Aufmerksamkeit zu erregen, „die Frau hatte nicht lange vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr. Spermaspuren einer Person wurden sichergestellt, eine DNA-Analyse des Sekrets, und natürlich der Frau selbst, sind bereits in Arbeit.“

      Dem Bericht lagen die Abbildungen von zwei Tattoos bei, die auf den Oberarmen der Toten noch recht gut zu erkennen waren. Arne schloss den Bericht mit dem Hinweis, dass im gesamten Bundesland bisher keine Vermisstenmeldung vorlag. Das hatte eine entsprechende Anfrage bereits unmittelbar nach dem Leichenfund ergeben.

      Mit entschlossener Miene und lauter Stimme setzte Arne Bock zu einem kurzen Resümee an.

      „Fassen wir zusammen. Weibliche unbekannte Leiche, dreißig bis vierzig Jahre alt, Todesursache Genickbruch durch stumpfe Gewalt, der Handlungsablauf kann nicht sicher rekonstruiert werden. Die Begleitumstände sprechen dafür, dass die Tat zumindest nicht am unmittel­baren Fundort verübt wurde. Verwertbare Spuren außer dem handelsüblichen Plastikseil, eine Wäscheleine, wurden nicht gefunden.“

      „Wenn es überhaupt eine Straftat war“, meldete Siegfried Reuschel Bedenken an.

      Fragend blickten die anderen beiden zu ihm.

      „Und wenn jemand einfach die Leiche gefunden und dort festgebunden hat, damit sie nicht wegtreibt?“

      Arne Bock war für einen Moment unsicher, wie er dieser offenbar völlig aus der Luft gegriffenen Vermutung des älteren Kollegen begegnen sollte. Ein kurzer Blick zu Rita Mesing zeigte ihm, dass auch sie die Bemerkung nicht ernst nahm.

      „Du liest zu viel Fachliteratur, Siegfried“, entschloss er sich für unverbindliche Ironie. Reuschel jedoch blieb bei seinem Zweifel. „Solange wir keinen eindeutigen Beweis für eine Tötung haben, müssen alle Möglichkeiten offen bleiben. Die Frau kann ja schließlich auch gestürzt sein.“

      Siegfried Reuschel pflegte den Ruf eines Querulanten, der selbst nahe liegende Tatsachen immer wieder in Frage stellte. Seine Kollegen bekamen den Eindruck, er mache das aus Prinzip, um Aufmerksamkeit zu erregen. Manche schoben es darauf, dass er mit allen Karriereambitionen mehr oder weniger freiwillig abschließen musste und sich in den zehn verbleibenden Jahren bis zu seiner Pensionierung etwas Narrenfreiheit leisten wollte. Als Ausgleich für verpasste Chancen, denn 1989 stand er auf dem Sprung zu höheren Aufgaben bei der Bezirksbehörde der Volkspolizei. Andererseits war er bemüht, den Bogen nicht zu überspannen und seinen Status aufs Spiel zu setzen. Und damit sein erst vor wenigen Jahren bezogenes Eigenheim an der Wolgaster Spitzenhörnbucht, mit einem unvergleichlichen Blick auf Peenestrom und Klappbrücke.

      Arnes Strategie war es, die positive Seite dieser Pedanterie zu nutzen, den Genauigkeitswahn. Wenn möglich vermied er unnötige Konfrontation, hatte schon mehrfach durch Ignorieren so manche destruktive Äußerungen von Siegfried Reuschel ins Leere laufen lassen. Eine persönliche Beziehung konnte er bisher zu Siegfried nicht herstellen, zu oft musste er die kleinen Nadelstiche gegen seine Autorität abwehren.

      „Gut, wir kommen hier nicht weiter und müssen warten, bis die Identität der Leiche festgestellt wurde. Und das kann ohne Vermisstenmeldung und Registrierung der DNA mühsam werden“, beendete Arne Bock die Runde.

      Rita Mesing verließ zusammen mit Siegfried Reuschel das Zimmer ihres Chefs. Sie hatte schon zu einer Bemerkung über das forsche Agieren des jungen Kommissars und die tollkühne Vermutung ihres Kollegen angesetzt, ließ es jedoch sein, als sie das teilnahmslose Gesicht an ihrer Seite wahrnahm.

      Arne begab sich zu seinem Chef Hartmut Westphal und informierte ihn über den Stand der Dinge. Westphal nahm die Information wortlos mit einem eher als Skepsis zu deutendem Kopfnicken entgegen, was Arne mit einem Anflug von Trotz als neue Herausforderung annahm.

      Die eben vernommenen Beiträge seiner Kollegen waren ja auch eher dürftig und ideenlos. Er musste einfach höhere Forderungen stellen, ohne dabei selbst als hilflos zu erscheinen.

      Wieder in seinem Büro angekommen, blickte er auf seinen PC und spürte plötzlich ein Verlangen, sich in den Chat einzuloggen. Aber auf dem polizeilichen Computer war das ausgeschlossen.

      5 Donnerstag, 1. November, 16.10 Uhr

      Der Mann ging durch die Heringsgasse in Wolgast. Seine Kappe hatte er tief ins Gesicht gezogen, der weit nach vorne ragende Schirm gab ihm Schutz. Er wollte in der beginnenden Dämmerung nicht erkannt werden. Trotz der für diese Jahreszeit milden Witterung trug er dünne Handschuhe. Sein Leben war seit einigen Jahren einem einzigen Ziel untergeordnet. Dabei folgte er einem lebendigen Plan, der den sich ständig wechselnden Bedingungen angepasst wurde, ohne kalkulierbaren Weg. Nur Richtung und Eckpunkte waren vorgegeben.

      Gerade in diesem Augenblick dachte er daran, wie er als Jugendlicher selbst Labyrinthe entwickelt hatte, die für seine Familie und seine Freunde nicht immer leicht zu knacken waren. Es kam eben darauf an, viele Spuren zu legen, den Benutzer des Labyrinths solange wie möglich in der Hoffnung zu wiegen, auf dem richtigen Weg zu sein. Aber die größte Leistung sah er darin, jemanden im Ungewissen darüber zu lassen, dass der viel versprechende Anfang des gesuchten Weges in einem Labyrinth enden würde. Die Ansprüche an seine Fähigkeiten wuchsen mit der zurückgelegten Wegstrecke. Er genoss solche Erfolgserlebnisse zwischendurch.

      Den ersten Teil seiner Aufgabe hatte er bereits absolviert, blickte jedoch mit gemischten Gefühlen auf ihn zurück. Er verlief nicht ganz nach seinem eigenen Plan. Nun war er auf dem zweiten unterwegs, obwohl ihn der erste noch nicht völlig in Ruhe ließ. Das beeinflusste den zweiten Teil auf manchmal unangenehme Weise. Schließlich sah er es aber als besondere Herausforderung, der er sich gewachsen zeigen würde.

      Von jetzt an würde er die Kreise enger ziehen, Fallen stellen, Schlingen legen. Schließlich würde er sein Wild zur Strecke bringen. Als das Wort Kreis seinen gedanklichen Fokus passierte, kam ihm eine Idee.

      Der Mann bog in die Herzogstraße ein, schlenderte einige Meter in nördliche Richtung, blickte sich unauffällig um. Als er auf der Höhe des Büros von ARGUS-TV war, zog er schnell einen kleinen Papierumschlag aus der Innentasche seines Mantels und ließ ihn im Briefkasten des Senders verschwinden, schloss die Klappe danach leise, um jede Aufmerksamkeit zu vermeiden.

      6 Donnerstag, 1. November, 19.05 Uhr

      Joachim Walter hatte an diesem Tag keine Lust, wahlweise mit der schwer vorhersehbaren Kochlust seiner Ehefrau oder den Tücken einer zeitaufwändigen eigenen Speisezubereitung in der heimischen Küche zu kämpfen. Vorsichtshalber hatte er sich deshalb auf der Heimfahrt einen Dönerteller gegönnt. Gleich nach der Ankunft in seinem Haus war er auf seinem Lieblingsplatz, dem großen Ohrensessel, versunken und betrachtete sich selbst in den großen Glasscheiben des Wintergartens.