Rainer Holl

Flut über Peenemünde


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seinem Verhalten als Chef der Dienststelle zu urteilen, strebte Westphal offenbar an, dass diese Position in Wolgast nicht die letzte seiner Laufbahn werden sollte. Arne Bock behielt seine Meinung dazu lieber für sich. Erst seit einem Jahr war der Dreiunddreißigjährige hier in der nordostdeutschen Provinz. Nach der Ausbildung hatte er sich zunächst dagegen gewehrt, in diese abgelegene Region versetzt zu werden, was vor allem an seiner Familiengeschichte lag. Als Kind war der kleine Arne aus seinem Wohnort Berlin regelmäßig zu Besuch auf Usedom. Arne gewann damals diese schöne Insel lieb. Und die schmucke Uniform seines Großvaters Reinhard Henkelmann, der ihm noch mehr zur vertrauten Bezugsperson wurde, nachdem sein Vater tödlich verunglückt war.

      Später kam der jugendliche Arne allmählich in Konflikt mit dem früheren Idol. Was als normale Distanzierung eines Teenagers zur älteren Generation begann, verstärkte sich noch, als sein Großvater die neuen Bedingungen nach der politischen Wende völlig ablehnte. Arne suchte nach einer eigenen Meinung über die untergegangene DDR, erkannte neue Möglichkeiten und geriet so manches Mal in eine fruchtlose Diskussion mit dem Ex-Offizier.

      Mit wachsender Reife setzte Arne auf die Vernunft beider Seiten. Erfolgreich, wie sich bald zeigte. Er stellte schließlich selbst den Versetzungsantrag nach Wolgast und begann sich seinem Großvater wieder zu nähern.

      Vom Umzug an die Küste war seine Frau Kerstin zunächst begeistert. Schon bald hatte sie ihre Entscheidung aber bereut. Ihre bayrische Heimat rangierte hier an der Ostsee unter den beliebtesten deutschen Dialekten eher im hinteren Viertel, und ihre Schüler vor allem in den mittleren Klassen waren dieser Tatsache gegenüber mindestens ebenso rücksichtslos und ungebildet wie so mancher Erwachsene. Sogar als „Schwäbin“ wurde sie bereits denunziert. Und die immer noch enge Verbindung von Arnes Großvater zu seinem früheren Staat ging ihr bald nur noch auf die Nerven.

      Ergebnis war schließlich eine sich verstärkende Distanzierung, verbunden mit einer immer mehr körperlosen Partnerschaft mit Arne, wozu auch die noch sehr betreuungsbedürftigen Kinder ihren Teil beitrugen.

      „Ich setze großes Vertrauen in Sie, Bock“, hatte ihm Westphal Mut gemacht. „In der Vermisstensache Bornhöft kommen wir im Moment nicht weiter, sie steckt immer noch in der Sackgasse, ohne verwertbare Hinweise. Also volle Kraft auf diesen Fall. Zunächst haben Sie die Kollegin Mesing und den Kollegen Reuschel als Unterstützung, sie sind bereits informiert worden. Heute Abend erwarte ich Ihren ersten Bericht.“

      Das spurlose Verschwinden eines früheren hohen Offiziers aus Karlshagen hatte einige Tage lang Wellen geschlagen, danach verloren sich die Reaktionen in Mutmaßungen und Gerüchten ohne Substanz. Arne vermutete jedoch etwas Großes hinter dieser Vermisstensache, ja er wünschte es sich sogar, natürlich nur aus beruflichem Ehrgeiz.

      Zunächst befasste er sich mit den vorliegenden Informationen des Vorabends und ließ auch sein Gespräch mit Hans Waldeck nochmals Revue passieren. Als die Spurensicherer gegen 9 Uhr vom Fundort eintrafen, staunte deren Leiter Erwin Meister nicht schlecht, mit welcher Ungeduld er von Arne Bock noch auf dem Flur empfangen und zu den Ergebnissen ausgefragt wurde.

      „Willst du einen neuen Ermittlungszeit-Ergebnisrekord aufstellen, lieber Arne?“ Arne Bock mochte den in sich ruhenden Erwin Meister, der oft mit klugen Hinweisen die Ermittlungen beförderte.

      „Ich will dir nur den Weg in mein abgelegenes Eckbüro abnehmen und dir jetzt gleich die Zeit für einen entspannenden Morgenkaffee ohne Zeitdruck geben.“

      Beide lächelten wortlos, gaben damit ihrem gegenseitigen Respekt Ausdruck. Arne nahm die Unterlagen entgegen und vertiefte sich in die mageren Ergebnisse. Danach bat er die beiden ihm zugeteilten Kollegen zu sich.

      Schon nach kurzer Dienstzeit in Wolgast fühlte er sich seinen älteren Kollegen überlegen. Doch bislang war er noch auf die lange Berufserfahrung und vor allem die gute Milieukenntnis seiner Mitstreiter angewiesen.

      Er schaute sich in dem nüchtern und zweckmäßig eingerichteten Büro um. Durch die Lage an der Ecke des Gebäudes hatte er gute Aussicht in zwei Richtungen, die im Winkel angeordneten Fenster gaben dem Raum ein helles Erscheinungsbild.

      Als Rita Mesing und Siegfried Reuschel zusammen sein Büro betraten, nahmen sie ohne Aufforderung am Beratungstisch Platz, auch Bock setzte sich hinzu.

      „Also liebe Kollegen, wir werden gemeinsam diesen Fall zu lösen haben, im bewährten Teamgeist. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.“

      Diese förmliche Einleitung hielt Arne Bock für angemessen, um seine Rolle als Chef von vornherein klarzustellen.

      „Ich denke, wir freuen uns auch darauf, nicht wahr, Siegfried?“ Siegfried Reuschel nickte nur abwesend. Rita Mesings Bemerkung war betont sachlich gehalten, so dass Arne auch bei größter Mühe keine Ironie heraushören konnte. Trotzdem blieb er misstrauisch. Mit Recht, wie er sogleich vernahm.

      „Du wirst uns sicher zuerst über die Befragung am Fundort der Leiche informieren, oder?“

      Arne reagierte schnell, lächelte den Sarkasmus von Siegfried Reuschel weg, der offenbar Probleme damit hatte, ihn als Autorität zu respektieren.

      „Fangen wir lieber von vorne an“, fasste Arne zusammen.

      Auch die sorgfältige Untersuchung am Peenestrom durch die Spurensicherung bei Tagesanbruch hatte keinerlei Ergebnisse gebracht, die Schlussfolgerungen in irgendeine Richtung zuließen. Von den vielen Reifenspuren waren keine isoliert oder als jüngeren Datums identifiziert worden. Und der Sand war zu locker, um Spuren zu bewahren. Eventuelle Handlungsabläufe konnten deshalb nicht rekonstruiert werden. Das Umfeld des Fundorts wurde nach Blutspuren untersucht, allerdings ohne Erfolg. Sie wären aber auch sehr leicht nachträglich zu beseitigen gewesen. Den Obduktionsbefund aus Greifswald erwartete Arne Bock nicht vor dem Abend.

      Dann erst gab Arne den Inhalt des Gesprächs mit Hans Waldeck wieder.

      „Ach, ein Edeladler ist also auch im Spiel“, entfuhr es Siegfried Reuschel nach Nennung des Namens. Arne stutzte kurz, als er auf diese Weise erfuhr, dass der Jäger ein früherer Offizier war. Den neidvoll-anerkennenden Kosenamen für Piloten kannte er von seinem Großvater.

      Er musste schnell wieder die Kontrolle zurückgewinnen.

      Ein Beamter betrat nach kurzem Klopfen das Büro und übergab Arne eine Mappe.

      „Hier. Von der Uni Greifswald.“

      „Jetzt schon?“, staunte Bock und bedankte sich. Ein solches Tempo waren die Polizisten von der Greifswalder Rechtsmedizin nicht gewohnt. Sie konnten nicht wissen, dass gerade in diesen Tagen der Bereitschaftsdienst mit ständiger Anwesenheit im Labor getestet wurde. Mangels anderer Arbeit bekam die diensthabende Ärztin die Leiche noch vor Mitternacht auf den Tisch, und hatte die gesamte Nacht zur Verfügung. Arne Bock nahm die Blätter an sich und überflog sie. Er ließ dabei seine beiden Kollegen einfach zusehen, spürte ihre Neugier ebenso wie ihren Unmut darüber. Dann blickte er beide an, als ob alles selbstverständlich wäre und fasste das Obduktionsergebnis des Rechtsmedizinischen Insti­tuts der Universität Greifswald zusammen.

      „Das Alter der Frau wird auf dreißig bis vierzig Jahre geschätzt. Todesursache ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Genickbruch durch die Einwirkung stumpfer Gewalt auf die Halswirbelsäule. Durch das Fehlen von Blutspuren konnte diese Tatsache bei bloßer Anschauung nicht erkannt werden.“

      Siegfried Reuschel hakte hier ein.

      „Gibt es genauere Hinweise, auf welche Weise die tödliche Verletzung entstanden sein kann?“

      Arne suchte in den Papieren nach einem Ansatz, die Frage zu beantworten.

      „Nein, dazu gibt es keine Aussage.“ Er fuhr fort.

      „In der Lunge war kein Wasser. Die Frau muss also schon tot gewesen sein, als sie in die Peene gelegt wurde. Das am Gesichtsknochen fehlende Gewebe wurde eindeutig post mortem entfernt. Ursache wahrscheinlich Tierfraß, da an den sehr unregelmäßigen Wundrändern keine Spuren menschlicher Werkzeuge oder Instrumente feststellbar waren.“

      „Tierfraß?“ Rita erstaunte diese Aussage. „Würde ein Tier nicht zunächst