Rainer Holl

Flut über Peenemünde


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Waldeck begann eine ausführliche Beschreibung seiner Pirsch. Bock unterbrach ihn nicht, obwohl er manchmal kurz davor war, den Redefluss des Jägers zu kanalisieren. Erst am Ende fragte der Kommissar nach.

      „Ihr Jagdrevier ist doch bestimmt ziemlich groß“, was Waldeck durch ein Nicken bestätigte. „Wie oft sind Sie denn hier unterwegs? Und wann war es das letzte Mal?“

      Hans Waldeck überlegte nur kurz. Er war ein sehr genauer Mensch und führte Buch über seine Pirschjagden. „Das war vor genau drei Wochen, aber leider erfolglos.“

      „Können es auch vier Wochen gewesen sein? Vielleicht am dritten Oktober?“

      Aus der Reaktion auf solche Überraschungsfragen hatte Bock schon oft neue Erkenntnisse gewinnen oder die Befragten verunsichern können. Schließlich war an dem betreffenden Tag ein Mensch verschwunden. Doch dieses Mal hatte er kein Glück. „Ausgeschlossen, da war ich gar nicht auf der Insel.“ Hans Waldeck blickte den Kommissar fragend an, der aber darauf nicht reagierte.

      „Gut.“ Arne Bock ließ offen, ob er Waldeck glaubte und fragte weiter. „Ist Ihnen während des Weges hierher etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“

      „Nein, gar nichts. Die Leiche ist ja offensichtlich an den Fundort transportiert worden, was sich aus der Befestigung am Busch schließen lässt. Und die Zufahrt ist für jeden erreichbar, die Einheimischen kennen den Weg zum Nordstrand.“

      Bock lächelte innerlich über den Hobbydetektiv, der offenbar vor ihm saß. Der erste Eindruck sprach für übereifrig.

      „Haben Sie Ihr Haus zu Fuß verlassen?“

      „Nein, da würde ich zu viel Zeit verlieren. Ich bin mit dem Auto bis zum Peenemünder Hafen gefahren, zur nördlichen Zufahrt. Außerdem muss ich ja meine Strecke“, er hielt kurz inne, und übersetzte dann aus der Jägersprache, „also meine Jagdbeute irgendwie transportieren.“

      „Haben sie vielleicht während Ihrer Pirsch Fahrzeuggeräusche aus Richtung der Fundstelle gehört, oder ist Ihnen auf dem Weg zum Hafen ein Fahrzeug entgegengekommen?“

      „Nein, auch da muss ich Sie enttäuschen. In der kurzen Zeit, die ich von Peenemünde bis zum Abzweig Richtung Hafen brauchte, habe ich überhaupt kein Fahrzeug gesehen. Und während der Jagd ist mir aus Richtung Nordstrand keinerlei Geräusch aufgefallen. Auch meiner Dina nicht.“ Bei diesen Worten klopfte Hans Waldeck der neben ihm sitzenden Hündin anerkennend auf die Schulter.

      Bis hierher entsprachen die Antworten durchaus den nicht sehr hohen Erwartungen des Kommissars, der die nächste Frage nach kurzem Zögern anschloss.

      „Wer wusste davon, dass Sie heute zur Jagd gehen würden?“.

      Hans Waldeck überlegte bei dieser Frage.

      „Meine Frau natürlich, und wie üblich der Revierförster. Um unerwünschten Überraschungen vorzubeugen, informiere ich ihn jedes Mal, meist im Laufe des jeweiligen Tages.“

      „Sagen Sie ihm auch, wohin genau Sie gehen werden?“

      „Ja, soweit ich das vorher absehen kann. Manchmal wechsle ich auch den Standort im Laufe der Pirsch. Das ist wie beim Pilze sammeln. Sammeln Sie Pilze?“ Bock war viel zu sehr auf die Befragung konzentriert, um darauf einzugehen.

      „Wenn jemand sieht, dass Sie um diese Zeit das Grundstück mit dem Auto verlassen, kann er sich dann denken, wohin Sie fahren?“

      Endlich begriff Hans Waldeck. „Sie meinen, mich könnte jemand beobachtet haben?“

      „Genau das meine ich. Und?“

      „Schon möglich“, sagte Hans leicht zögernd und dachte darüber nach, wer ihm vor der Abfahrt über den Weg gelaufen war. Seine Augen verrieten jedoch nichts.

      „Darauf habe ich nicht geachtet. Natürlich geht der normale Mensch nicht davon aus, unter Beobachtung zu stehen.“

      Der normale Mensch sicher nicht, dachte Bock aus einer Eingebung heraus.

      „Auch wenn die Frage angesichts des Zustandes der Leiche makaber klingt, haben Sie den Eindruck, diese Frau gekannt zu haben?“

      „Nein, den Eindruck habe ich nicht“, kam die exakte Antwort.

      Zielführende Fragen hatte der Kommissar im Moment nicht mehr. Der Zeuge schien wirklich nicht mehr zu wissen, als er ihm entlocken konnte. Dennoch blieb bei Bock ein Rest Skepsis, wie immer bei solchen Befragungen.

      „Gut, Herr Waldeck, zunächst danke ich Ihnen für die Hilfe. Sie können dann gehen. Falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, was uns weiter bringt, hier ist meine Karte. Und Sie werden sich bestimmt für weitere Fragen unsererseits bereithalten.“

      Bock verwendete das Wort uns absichtlich in doppeldeutigem Sinne, denn er hatte sehr wohl den Ehrgeiz Waldecks bemerkt, als Partner anerkannt werden zu wollen.

      „Selbstverständlich, Herr Kommissar“, erwiderte Hans mit innerlich zufriedenem Lächeln.

      Die Leiche wurde nach einer vorläufigen Untersuchung des Umfelds geborgen und abtransportiert, mit dem Tageslicht am kommenden Morgen sollte die gründliche Untersuchung weitergehen.

      Hans Waldeck begab sich auf dem kürzesten Weg zu seinem Auto. Für die Jagd war ihm die Lust vergangen, das Büchsenlicht auch zu schwach geworden. Enttäuschung über den misslungenen Jagdabend ergriff den Mann.

      Plötzlich aufkommende Befürchtungen, welche Konsequenzen sein Fund für ihn persönlich haben würde, wollte er verdrängen, was ihm jedoch nicht gelang.

      Als er seinen Hof erreicht hatte, dachte Hans Waldeck nochmals an die Fragen des Beamten. Ob der etwa meinte, gerade ich sollte gestern Abend an genau dieser Stelle die Leiche finden? Eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein. Aber wer sollte das arrangieren können? Er hielt es für ein zu gewagtes Gedankenexperiment dieses jugendlichen Ermittlers.

      Und die Frage nach dem dritten Oktober machte ihn erst nachträglich stutzig, als er sich daran erinnerte, dass sein ehemaliger Vorgesetzter genau an diesem Tag verschwunden war, was natürlich für Aufsehen gesorgt hatte. Der Schuss des Kommissars ins Blaue hinein bedeutete also, es gab noch immer keine Spur.

      Als Arne Bock kurz vor Mitternacht nach Hause kam, lag das neu bezogene Haus im Wolgaster Ortsteil Mahlzow im Dunkeln, seine Frau Kerstin schlief schon.

      Er ging leise in sein Arbeitszimmer, fuhr den Laptop hoch und loggte sich in seinen Chat ein. Er hatte Glück, die Nutzerin mit dem Nick Zauberfrau war noch online, obwohl sie sich schon für eine frühere Zeit verabredet hatten. Die folgenden Minuten gaben Arne die Gewissheit, dass seine Fähigkeiten, auf die besonderen Bedürfnisse von Frauen die richtigen Worte zu finden, sich immer mehr verbesserten. Er würde diese Zauberfrau wohl nie treffen, kannte nichts von ihr als Worte. Die Umrisse und das Profil ihres Körpers entstanden nach seinen Wünschen ausschließlich in der eigenen Fantasie. Als er sich völlig in den Umgang seiner Hände mit der vollendeten Weiblichkeit und deren rauschhafte Reaktion versenkte, genoss er wie schon so oft diese faszinierende archaische Form der Erotik.

      4 Donnerstag, 1. November, 7.55 Uhr

      Kriminalhauptkommissar Arne Bock schlug fast übermütig die Autotür zu und betrat so gelöst wie lange nicht den modernen, quaderförmigen Bau der neu erbauten Polizeidienststelle an einer belebten Kreuzung in Wolgast. Er fühlte sich von elementarem Tatendrang getrieben.

       Endlich eine Herausforderung!

      In seinem Büro deponierte er nur die kleine Schultertasche und schlenderte sofort ins Chefzimmer des Dienststellenleiters zum morgendlichen Rapport. Wie erwartet erhielt er wenige Minuten später auch offiziell die Verantwortung für den Vorgang, wie es amtsdeutsch hieß, „Wasserleiche Peenestrom“. Es war nicht sein erster Fall als leitender Ermittler, aber der bisher schwerwiegendste. Unsicherheit ließ der schlanke dunkelhaarige Mann mit dem klitzekleinen Bauchansatz gegenüber Polizeidirektor Hartmut Westphal nicht erkennen.

      Westphal