Rainer Holl

Flut über Peenemünde


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mit herbstgefärbten Blättern durchsetzt wurde. Dunkle Fichten und breit ausladende Buchen wechselten sich mit meterhohen Betonresten ab. Ein Gemisch aus dicht gewachsenen Sträuchern, wassergefüllten Gräben und sumpfigem Waldboden unmittelbar neben dem Weg machte Verbotsschilder überflüssig.

      Pia Bergner nahm mit ihrem Fahrrad auf den holprigen, jahrzehnte­alten Betonschwellen die unmittelbare Umgebung als einengende Bedrohung wahr und fühlte sich dennoch wie von einem Magnetfeld angezogen. Eine diffuse Furcht, die sie längst in der Kammer ihrer Kindheit eingeschlossen glaubte, kämpfte gegen die unüberwindliche Magie der Geschichte.

      Das gesamte Gebiet war für die Öffentlichkeit gesperrt. Im Entdeckungsfall würde sie sich auf ihren Status berufen, auch wenn sie aus ihrer Wahlheimat Schweden nur zu einem Praktikum an das Museum Peenemünde gekommen war.

      Kurz vor Ende ihres vierten Lebensjahrzehntes stehend, hatte Pia das Ebenbild einer dieser energischen Frauen in den nordischen Ländern angenommen, deren Alter zwischen fünfundzwanzig und fünfundfünfzig Jahren schwer zu schätzen ist. Mittelblonde halblange Haare passten sich der schlanken Figur an. Das ebenmäßige Gesicht verbarg die Enttäuschungen ihres Lebens, Optimismus und Zuversicht sorgten regelmäßig für einen Ausgleich und gewannen schließlich die Oberhand über ihre von ersten Falten geprägten Züge.

      Nicht lange nach dem achtzehnten Geburtstag war sie, die gerade offen werdende Grenze nutzend, aus ihrem Wohnort nahe der deutschen Ostseeküste aus erdrückender häuslicher Enge nach Schweden geflüchtet.

      Die Gedanken an ihre Heimat wurden danach dominiert von den Beziehungen zu ihrer Mutter, die sie allein im Haus zurückließ und nur ein einziges Mal besuchte – an ihrem Sterbebett wenige Monate zuvor. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, und erst beim letzten Besuch seinen Namen erfahren. Schon bald darauf wurde Pia in eine neue Gefühlswelt hineingeschoben. Der Zwang zur Rücksichtnahme und das schlechte Gewissen, die Mutter verlassen zu haben, lösten sich auf.

      Die Kehrseite war eine plötzliche Leere. Immer öfter kam sie sich vor wie ein namenloses Sandkorn am Ostseestrand, an dem sie einst entstanden war. Pia spürte den Drang, sich neu zu orientieren, sehnte sich nach einer erfüllenden Aufgabe für ihr Dasein. Seit einigen Wochen glaubte sie, zumindest den Weg dorthin gefunden zu haben.

      Der führte für sie an diesem Tag zunächst direkt in die Geschichte: zum Prüfstand VII der ehemaligen Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Von hier aus startete 1942 die Rakete A 4 erstmals bis an die Grenze des Weltraums. Unter dem Namen Vergeltungswaffe (V) 2 sollte sie den deutschen Sieg aus dem Feuer reißen, kam dazu jedoch zu spät.

      Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie zum weltweiten Vorbild für alle Raketen, auch zum Kristallisationskern für den Mondflug. Die noch erkennbaren Reste des legendären Raketenstartplatzes waren das Ziel aller Peenemünde-Enthusiasten.

      Pias freudige Erwartung, endlich diese Stelle persönlich hautnah zu erleben, wurde durch die gespenstische Umgebung getrübt. Ehrfurcht gebar gleichzeitig Distanz. Sie fühlte die Last der damaligen Epoche, kam sich vor wie ein unerwünschter Eindringling in eine Dimension, die an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft stieß.

      Pia rief sich den Beginn ihres Interesses für Peenemünde ins Gedächtnis, der nur wenige Monate zurücklag. Von einem jungen Mann hörte sie die unglaubliche Geschichte einer im Juni 1944 über Schweden abgestürzten Rakete A 4, nur wenige hundert Meter neben dem Hof seiner Familie, in einem kleinen Dorf mitten im Wald. Seitdem fühlte Pia sich von diesem Thema gefangen und umarmt, genau wie von Nils in den verschiedenen Momenten ihrer leidenschaftlichen Begegnungen. Beides verschmolz zuweilen sogar, ohne dass Pia es wahrnahm.

      Sie war gefesselt davon, mit welcher Begeisterung Nils Pettersson von diesem Ereignis berichtete, das seine Familie hätte auslöschen können. Er sah nur die technische Leistung, ein Fluggerät über eine solche Entfernung schießen zu können.

      Als Erste in der Welt.

      Und ausgerechnet neben den Hof seiner Familie.

      Nun war Pia an der entscheidenden Wegbiegung angekommen, stieg ab und lehnte das Fahrrad an einen Baum. Langsam bewegte sie sich zu Fuß weiter, blickte dabei auf die Skizze, die den Ort zu seiner aktiven Zeit darstellte.

      Ein mit Wasser gefüllter, der Natur überlassener Betongraben begrenzte den Weg zur Linken. Deutlich erkennbar die Reste des irdenen Dammes, der den gesamten Prüfstand einst umgab. Bei jedem Schritt fühlte Pia eine Furcht, etwas von dieser so tot und unbeweglich erscheinenden und dennoch auf ganz eigene Art überlebenden Vergangenheit zu zerstören.

      Wie ein Fremdkörper ragte der granitene Gedenkstein empor, auf dessen Vorfläche frische Blumen lagen. „Abschußstelle der A 4-Raketen“, so die nüchterne Inschrift. Darüber eine stilisierte Rakete.

      Pia ließ die Umgebung auf sich wirken, schloss dann die Augen. Sie blickte erneut auf das Papier und wandte sich in Richtung des Strandes, der von dieser Stelle nur zu erahnen war. Nach wenigen Metern erreichte sie den Waldrand. Ihr Blick reichte über eine ausgedehnte Schilffläche auf das Wasser der Ostsee. Zum Greifen nahe stand die Insel Oie mit dem Leuchtturm wie ein Wächter im Meer.

      Der heikle Auftrag ihres schwedischen Mentors Rune Alfredsson drängte sich in den Vordergrund. Denn es war genau diese Richtung, in der sich einer seiner „Wünsche“ nach brisanten, bisher nur gerüchteweise vorliegenden Informationen befinden sollte. Der pensionierte Mitarbeiter des schwedischen Luftwaffenmuseum in Linköping hatte ihr nicht nur das Praktikum mit einer offiziellen Legende verschafft, sondern sie mit Aufgaben versehen, deren Tragweite Pia nur schwer abschätzen konnte. Sie waren ebenso lichtscheu wie die vielen Raubgräber in Peenemünde. Die anfängliche Skepsis Pias, als sie von diesen Aufgaben hörte, wich schnell einer motivierenden Neugier.

      Unmittelbar vor ihren Füßen bemerkte sie eine schmale, offenbar vor einiger Zeit entstandene Gasse im Schilf. Auf einem halben Meter Breite zeigten die Halme mit den Spitzen in Richtung Ostsee, hatten sich aber fast vollständig wieder aufgerichtet. Pia folgte dem noch schwach sichtbaren Pfad, konnte kaum über die Schilfspitzen sehen, die vom Wind in Richtung Meer gebogen wurden. Bei ihrem Gang stellte sie sich vor, wie jemand ein flaches Boot oder einen ähnlich geformten Gegenstand durch das Schilf zieht.

      Der auffrischende Westwind hatte das flache Wasser vom Ufer weg getrieben und Pia konnte auf der feuchten Sandbank noch fast fünfzig Meter weiterlaufen. Sie blieb stehen und blickte sich um, bis sich ihre Gedanken wieder geordnet hatten.

      Auf dem Rückweg im Schilf wurde ihre Aufmerksamkeit durch einen blitzenden Gegenstand geweckt. Sie hob ihn auf und hatte einen kleinen Ansteckbutton in der Hand. „Heimatverein Peenemünde“ las sie dort halbkreisförmig über dem Bild einer Rakete. Von diesem Verein hatte Pia bereits gehört, er arbeitete eng mit dem Museum zusammen. Den Button nahm sie zunächst gedankenlos an sich. Bis plötzlich ihre Gedanken übermütige Sprünge machten, wohl angefeuert von der alle Normen sprengenden Atmosphäre. Und getrieben von erneut aufkommender Furcht.

      Wer hat diesen Button hier verloren? Und warum war der schmale Durchgang offenbar nur in eine Richtung benutzt worden?

      Die Zeitungsmeldung an einem ihrer ersten Praktikumstage über den vermissten ehemaligen Offizier fiel ihr ein.

      Als ihre Fantasie schließlich mit ihr durchzugehen drohte und sie sich vorstellte, dass der Button von einem menschlichen Körper stammte, der durch das Schilf…

      Weiter kam sie nicht und brachte sich selbst durch ein halblautes kopfschüttelndes Lachen wieder in die Gegenwart zurück. Als wenn sie die Furcht abgeworfen hätte.

      Für die Rückfahrt entschloss sie sich zu einem kleinen Umweg an den Peenestrom. Sie erreichte nach wenigen Kilometern auf der asphaltierten Ringstraße die gesuchte Einfahrt, umkurvte meterbreite wassergefüllte Löcher, bis sie am Ziel war. Eine von vielen Löchern durchsetzte Grasfläche reichte fast bis ans Wasser, dessen Wellen der stärker werdende Wind in kurzen Abständen ans Ufer schlagen ließ. Pia suchte sich eine windgeschützte Mulde und setzte sich auf ihre Isomatte. Beim direkten Blick in die Nachmittagssonne schlossen sich ihre Augen. Die anstrengende Radtour steuerte ein Übriges bei.

      Ein heller Schrei holte Pia aus ihrem Traum. Neugierig blickte