Rainer Holl

Flut über Peenemünde


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dazu keinerlei Anzeichen.

      Wo war er?

      Warum rief sie ihn nicht einfach auf seinem Handy an? Sie war so durcheinander, dass sie an diese Möglichkeit zunächst gar nicht gedacht hatte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ihre Kontakte sich immer mehr verselbstständigten, jeder praktisch sein eigenes Leben führte.

      In der Vorfreude, die Unsicherheit würde sich jetzt auflösen, wählte sie seine Nummer. Eine elektronische Stimme verkündete, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei. Also hatte er das Handy ausgeschaltet oder nicht rechtzeitig aufgeladen?

      Oder…? Die Ungewissheit wuchs.

      Mittlerweile war es 7.30 Uhr geworden. Erika wollte wissen, was los war, wo Joachim sich jetzt aufhielt.

      Sie überwand sich und rief in seinem Büro in der Stadt Usedom an, wo er um diese Zeit schon angekommen sein musste. Woher immer er auch dahin gefahren war.

      „Der Bürgermeister? Aber der hat doch heute um neun Uhr eine Beratung in Peenemünde, da lohnt es sich nicht, vorher hierher zu kommen. Hat er das nicht erzählt?“ Die Sekretärin staunte über die Nachfrage.

      Erika Walter tat so, als hätte sie es vergessen und beendete schnell mit einer Entschuldigung das Gespräch.

      Ihre Unruhe wurde damit nur größer.

      Sie setzte sich auf ihren Stuhl in der Küche und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Auf Frühstück hatte sie jetzt keinen Appetit, aber der Kaffee musste sein. Sie nahm zwei Messlöffel Kaffeebohnen, mahlte sie mit der kleinen Maschine zu Pulver, kippte alles in eine große Tasse und goss kochendes Wasser dazu. Türkisch gebrühter Kaffee gehörte zu ihren absoluten Lieblingsgetränken, sie gönnte ihn sich eigentlich nur in guter Stimmung – oder wenn sie diese besonders nötig hatte. Erika Walter konzentrierte sich mühevoll auf den Genuss und spürte ihre Lebensgeister wieder erwachen. Sie wirkten gleichzeitig wie Verkehrsregler auf einer belebten Gedankenkreuzung.

      Es war nicht ungewöhnlich, dass Joachim später oder nachts gar nicht nach Hause kam, aber bei aller Distanz in ihrer Beziehung, er informierte sie immer vorher darüber, damit sie sich keine Sorgen machen sollte.

      Ob die Gründe, die er dafür vorgab, immer stimmten, stand auf einem anderen Blatt, das Erika gar nicht lesen wollte.

      Beim Kaffeetrinken überflog sie nebenbei gewohnheitsmäßig die Zeitung, die sie schnell noch im Morgenmantel aus dem Briefkasten neben der Haustür gezogen hatte.

      Zwei Themen ragten aus dem Lokalteil heraus, die beide in ihrer Bedeutung weit über die Aufreger hinausgingen, von denen die Küsten-Rundschau gewöhnlich beherrscht war.

      Der Fund einer Wasserleiche am Peenestrom und immer noch die Gerüchte über erneute Pläne, den Deich zurückzubauen.

      Das wird den Herrn Bürgermeister bestimmt beides interessieren, dachte Erika bei sich.

      Plötzlich sprang dieser Gedanke zu ihren aktuellen Sorgen über und bildete ein noch stärkeres Kraftfeld.

      Hatte das vielleicht mit Joachims Abwesenheit zu tun?

      Erika blickte auf die Küchenuhr, die auf 8.30 Uhr zuging.

      Sie rief nach kurzem Zögern im Museum Peenemünde an.

      „Ja, Ihr Mann steht auf der Teilnehmerliste, Frau Walter. Warten Sie, ich frage nach, ob er schon hier ist. Meist nutzt er ja die Zeit davor für kurze Gespräche.“ Die Chefsekretärin kam nach wenigen Sekunden zurück. „Er ist noch nicht hier, soll er Sie anrufen, wenn er kommt?“

      „Nein, danke, ist gut gemeint, so wichtig ist es dann doch nicht.“

      Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte das Telefon. Eine Mobilfunknummer.

      „Walter?“, meldet sich Erika mit fragendem Tonfall.

      „Guten Morgen, ich bin Politesse und gerade in der Ostseestraße unterwegs. Hier steht ein blauer BMW-Geländewagen. Sagen Sie, fährt Ihr Mann nicht so einen?“ Sie nannte das Kennzeichen.

      „Ja, der gehört uns, also meinem Mann. Was ist denn mit dem Auto?“

      Erika durchzuckte ein unbestimmbares Gefühl, sie wusste in dem Moment nicht, ob sie sich freuen sollte. Die Entscheidung wurde ihr dann sofort abgenommen.

      „Dachte ich mir doch, dass es Ihrer ist, deshalb rufe ich Sie gleich direkt an. Ihre Nummer habe ich von meinem Büro bekommen. Das Auto steht hier mit offener Heckklappe.“

      „Oh, vielen Dank für die Information“, brachte Erika gerade noch heraus und meinte, eine Erklärung dafür vorbringen zu müssen. „Mein Mann ist wohl kurz zum Strand und hat vergessen, sie zu schließen. Ich fahre aber vorsichtshalber sofort hin. Wer weiß, wie lange er weg bleibt.“

      „Das wäre schön, ich muss nämlich weiter.“

      Die Politesse beendete das Gespräch mit nachdenklichem Gesicht. Sie hatte erwogen, gleich die Polizei zu informieren, entschied sich dann aber anders. Vielleicht würde sich alles ganz schnell aufklären, und dem neuen Bürgermeister blieben unnötige Schwierigkeiten erspart.

      Für Erika war jetzt jedoch alles klar. Irgendetwas konnte hier nicht stimmen. Sie schlüpfte nur schnell in Pulli, Jeans und Jacke, fuhr mit ihrem kleinen Peugeot, ausnahmsweise ohne sich zu schminken, sofort zu der angegebenen Stelle.

      Sie hielt neben dem BMW an, stieg aus, betrachtete die immer noch geöffnete Heckklappe. Das Fahrzeug stand mit dem Heck dicht an den Büschen, so dass von der Straße aus beim Vorbeifahren kaum zu erkennen war, dass die Klappe offen stand. Erika warf einen Blick in den Kofferraum und erkannte einen kleinen roten Fleck auf der Bodenmatte.

      Sie erschrak, blickte sich um, wilde Gedanken flogen ihr durch den Kopf.

      Dann wählte sie mit ihrem Handy die 110.

      8 Freitag, 2. November, 9.05 Uhr

      „Was erlauben die sich?“, rief Arne Bock erbost aus. „Will wohl Sheriff spielen, diese Frau Wollmann. Oder die Quoten steigern?“

      Übereinstimmend empfanden die drei Polizisten den vorabendlichen Bericht der Chefreporterin Daniela Wollmann von ARGUS-TV über die Wasserleiche als Affront gegen die Polizei. „Wenn sie uns wenigstens vorher darüber informiert hätte, aber so beeinflusst das eindeutig unsere Ermittlungen. Was von solchen Fällen an die Öffentlichkeit kommt, bestimmt doch wohl immer noch die Polizei.“ Rita Mesing und Siegfried Reuschel sahen sich an, lächelten in seltener Einmütigkeit jeder für sich über den Gefühlsausbruch ihres Chefs.

      „Für euch ist das wohl völlig normal?“ Arnes Zorn ebbte nicht ab.

      Die Enttäuschung vom Vortag über den Beginn der Ermittlungen war Arne Bock immer noch anzumerken. Mangels anderer Anhaltspunkte hatten sie begonnen, das Umfeld des Zeugen Hans Waldeck zu durchleuchten, was jedoch kein verwertbares Ergebnis brachte. Auch für einen Zusammenhang mit dem Verschwinden von Dieter Bornhöft am 3. Oktober, dessen Umstände völlig im Dunkeln lagen, gab es keinerlei Hinweis. Deshalb kam Arne die Eigenmächtigkeit des Senders gerade recht, um sich abzureagieren.

      Seine beiden Kollegen kannten, anders als Arne Bock, so manches Beispiel aus der Zusammenarbeit mit ARGUS-TV, das ihnen bei Ermittlungen geholfen hatte. Besonders nachdem Daniela Wollmann drei Jahre zuvor dem bis dahin etwas verschlafenen Provinzkanal neues Leben eingehaucht hatte. Natürlich konnten sie den Alleingang des Lokalsenders nicht gutheißen, sie kannten aber den Ehrgeiz der TV-Leute und hatten mehr Verständnis für diese Aktion, als es die Vorschrift hergab.

      „Weißt du, Arne, lass uns mit der Wollmann über die Sache reden. Vielleicht kann daraus eine produktive Zusammenarbeit werden. Die Aufnahmen stammen zweifellos vom Täter, und das allein ist doch schon eine bemerkenswerte Tatsache. Er will offenbar, dass alles an die Öffentlichkeit kommt. Warum auch immer. Und ARGUS-TV hat eine wachsende Reichweite, das kann uns bestimmt noch helfen. Scharfes Schießen heben wir uns für später auf. Und dass es jetzt auch hier sowas wie Pressefreiheit gibt, das habt