Rainer Holl

Flut über Peenemünde


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den Seitenhieb auf den Jüngeren aber nicht verkneifen.

      Ihre lange Dienstzeit hatte zu einer inneren Ruhe geführt, die sich positiv auf das Klima im Team auswirkte. Sie hatte nun mit über fünfzig alle Karriereambitionen aufgegeben, war froh, 1990 in die neugeordnete Polizei übernommen worden zu sein und gestaltete ihr Leben mit ihrer Familie so, dass alle damit zufrieden sein konnten. Sogar ihre Kollegen und Vorgesetzten. Dabei war sie nicht selbstgenügsam, sondern nahm so manche Weiterbildungsmöglichkeit wahr. Rita ging in der Ermittlungsarbeit auf und blickte mit immer kürzerer Distanz und wachsender Vorfreude allmählich auch nach vorn zum Ende ihres Berufslebens. Sie war professionell genug, zu Arne Bock aus dem Altersunterschied kein mütterliches Verhältnis abzuleiten. Gleichzeitig registrierte sie, dass ein zaghaftes Anwachsen gegenseitigen Vertrauens zwischen ihr und ihm oft durch seine Arroganz zunichte gemacht wurde. Sie zeigte nachsichtiges Verständnis für dessen Zwang, den Chef herauskehren zu müssen, auch wenn es nicht ihrer Anforderung an Charakter entsprach. Rita fühlte sich außerdem keineswegs zu alt für Weiblichkeit, wurde dazu beim morgendlichen Blick in den Spiegel sogar immer wieder ermuntert.

      Arne Bock zögerte, schluckte kommentarlos die spitze Schlussbemerkung, versuchte sich zu beruhigen. Er war ganz und gar nicht mit einer solchen nachgiebigen Haltung einverstanden. Als er gerade zu einer Erwiderung ansetzte, entschärfte ein Klopfen die Spannung, der Diensthabende trat ein und blickte in die Runde. Sein Gesichtsausdruck kündigte eine wichtige Information an.

      „Hier, gerade angekommen, vielleicht interessiert euch das“. In der Gewissheit, dass es für die Kriminalisten wichtig sein würde, legte er ein Blatt Papier auf den Tisch und verließ den Raum.

      Siegfried Reuschel griff spontan nach dem Blatt, las sich den Text durch und sah zu seinen Kollegen. Plötzlich packte ihn der Übermut und er sagte trocken: „Nehmt euer Zeug!“

      Er verbesserte sich sofort, zog diese Bemerkung aus einer bekannten US-Krimiserie zurück, die ja auch nur dem Chef zustand und informierte die beiden anderen über die Vermisstenmeldung von Erika Walter, die besonders einen Blutfleck im Auto ihres Mannes hervorhob.

      Sie blickten sich nachdenklich an. Ein Zusammenhang mit der unbekannten Wasserleiche war aus diesen knappen Informationen nicht herauszulesen.

      Arne Bock ergriff die Initiative. „Schon wieder ein Vermisster. Und wieder aus der Regional-Prominenz.“ Sofort drängte sich ihm ein Zusammenhang auf.

      „Das kann kein Zufall sein“, legte er sich fest.

      Rita reagierte sofort. „Vermutest du etwa einen Serientäter, Arne?“

      „Im Moment können wir gar nichts ausschließen“, antwortete Arne unverzüglich, der Ritas Ironie einfach ignorierte. Darauf wandte er sich an Siegfried. „Nimm dein Zeug“, hier machte er eine vielsagende Pause, „ und geh zu ARGUS-TV, versuche mehr über die Fotos und deren Urheber herauszubekommen. Aber kein Wort von dem neuen Vermisstenfall. Vorerst. Und du, Rita, sag Erwin Meister Bescheid, wir fahren sofort los, ich brauche dich als Frau zu Frau.“

       Jetzt wird´s richtig spannend.

      Diese laut geplanten Worte konnte Arne Bock gerade noch in seine Gedanken versenken.

      Erika Walter stand noch immer unschlüssig am BMW, als die beiden Polizeifahrzeuge eintrafen. In den fast fünfundvierzig Minuten zwischen ihrem Notruf und der Ankunft der Beamten war Erika einige Male in Richtung Strand gegangen, der nur wenige hundert Meter entfernt hinter dem schmalen Waldstreifen lag. Vielleicht stimmte ja sogar, was sie der Politesse vorgeschwindelt hatte. Das Auto ließ sie jedoch nicht aus den Augen, auch die Klappe zu schließen, traute sie sich nicht, um keine Spuren zu verwischen. Von Joachim war jedoch weit und breit nichts zu sehen.

      Arne und Rita traten zu Erika, stellten sich und ihre Begleiter von der Spurensicherung vor. Erika beteuerte, keinerlei Veränderungen am Auto vorgenommen und nichts berührt zu haben. Die Spurensicherer nahm das Fahrzeug in Augenschein, fotografierten den Blutfleck und veranlassten einen Transport in die Polizeiwerkstatt nach Wolgast. Die Ermittler wandten sich Erika Walter zu, der die Unruhe ins Gesicht geschrieben stand.

      „Wir haben viele Fragen an Sie, Frau Walter. Wie wäre es, wenn wir zu Ihnen nach Hause fahren und uns dort in Ruhe unterhalten?“, schlug Arne Bock vor. Erika nickte schweigend, setzte sich in ihren kleinen Peugeot und fuhr voraus.

      Sie saßen zu dritt um den Wohnzimmertisch, tranken von dem Kaffee, den Erika neu aufgebrüht hatte, während sie versuchte, ihre Gedanken zu sammeln.

      Sie beantwortete die Fragen der Ermittler über die Umstände des Verschwindens, ließ natürlich alle Hintergrundgedanken aus, die sie für unwichtig hielt.

      Das anschließende kurze Schweigen brach dann Rita Mesing, von Arne Bock durch leichtes Kopfnicken dazu aufgefordert.

      Mit vorsichtigen Worten, ständig die Reaktion von Erika Walter beachtend, begann sie.

      „Frau Walter, wir prüfen bei allen Vermisstenfällen routinemäßig das Umfeld der Betroffenen.“ Sie zögerte vor den folgenden Worten.

      „Dazu gehört besonders in diesem Fall auch Ihr Verhältnis zu Ihrem Mann, also die Partnerschaft.“

      Rita hielt kurz inne.

      „Was können Sie uns über Ihre Ehe sagen? Gibt es Probleme über das Normale hinaus, oder Dinge, die für die Ermittlung wichtig sein können?“

      Erikas Miene verdunkelte sich. Rita fügte dann einen beruhigenden Satz hinzu.

      „Sie verstehen, wir wollen niemandem etwas unterstellen, müssen aber wissen, woran wir sind.“

      Erika hatte diese Frage befürchtet, war aber beherrscht genug, darauf zu antworten.

      „Wir führen eine ganz normale Ehe, wie sie für ein Paar nach über fünfundzwanzig Jahren Gemeinsamkeit so üblich ist. Die Probleme würde ich nicht als außergewöhnlich bezeichnen.“ Ihre Stimme wurde nun lauter. „Wenn Sie glauben, ich hätte mit dem Verschwinden etwas zu tun, dann irren Sie sich gewaltig.“

      Sofort griff Arne Bock ein. „Aber Frau Walter, wie kommen Sie denn darauf? Solche Fragen gehören ganz einfach zur Routine“, versuchte er die Aufregung zu entschärfen. „Sie haben uns doch erzählt, mit wem Sie gestern Abend zusammen waren. Das ist für uns leicht überprüfbar, falls wir es überhaupt für nötig erachten. Bitte beruhigen Sie sich.“

      So ganz gelang es Erika nicht, sie konnte ihre Gedanken einfach nicht bändigen.

      „Dürfen wir uns bei Ihnen etwas umsehen?“ Rita Mesing wollte der Situation wieder mehr Konstruktivität geben.

      „Natürlich, ich habe nichts zu verbergen.“

      „Darum geht es nicht, aber wir müssen zum Beispiel die Herkunft des Blutes aus dem Auto feststellen. Können Sie uns dazu die Zahnbürste Ihres Mannes mitgeben? Wir lassen zum Abgleich eine DNA-Analyse machen, wenn Sie einverstanden sind. Auch das Arbeitszimmer Ihres Mannes würden wir gerne sehen.“

      Erika Walter hatte nichts gegen die Analyse, gab Rita Mesing die gewünschte Zahnbürste und führte die Ermittler in Joachims Arbeitszimmer.

      Sie sahen sich im Raum um, wussten nicht, wonach zu suchen war, wollten sich nur einen Eindruck verschaffen. Der Raum im Obergeschoss befand sich auf der Giebelseite des Hauses, hatte ein großes, nach Süden gerichtetes Fenster. Offenbar liebte der Hausherr den Sonnenschein. Die Wände beiderseits des Fensters wurden bis kurz unter die Decke fast vollständig von Bücherregalen eingenommen. Im rechten Winkel zum Fenster stand der Arbeitstisch mit Flachbildschirm und Tastatur, der kleine PC nahm wenig Platz unter dem Tisch rechts neben dem Bürodrehstuhl ein. In der Ecke zwischen der Tür und einem zweiten Fenster stand ein breiter Stuhl, ein Freischwinger mit hoher Lehne, dessen dunkelblaues Polster nach häufiger Benutzung aussah. Links daneben sorgte eine Stehlampe für die nötige Beleuchtung. An der gegenüber liegenden Wand standen ein Büroschrank mit zwei Türen sowie ein offenes Regal mit zahlreichen Ordnern. Bei gutem Licht war die hellgrüne Wandfarbe kaum wahrzunehmen. Unterschiedlich große Rahmen mit Fotos und Grafiken hingen an den unverstellten Wandflächen. Alles erschien wie