Rainer Holl

Flut über Peenemünde


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hatte es an seiner Seite aber nicht ausgehalten, und er, Beckert, auch nicht. Andere auszuhalten, war irgendwann unter seiner Würde, wie man den Begriff auch immer verstehen mochte.

      Jürgen Beckert sah sich schon immer als Visionär, seiner Umgebung weit voraus, und meist überlegen. Gerade deshalb zog es ihn an genau diesen Ort, an dem Jahrzehnte zuvor Leute seines Schlages ihre Spuren hinterlassen hatten. Als erfolgreicher Projektentwickler war es ihm gelungen, sich in Schleswig-Holstein einen Namen und einen soliden finanziellen Spielraum zu verschaffen. Sein Ruf litt jedoch mit der Zeit, denn Konflikte mit Partnern waren in diesem Geschäft unausweichlich. Er suchte sich eine neue Vision, nutzte die Wiedervereinigung Deutschlands. Der Kontostand eröffnete ihm alle Möglichkeiten für den Einstieg in das Hotelgeschäft im östlichen Teil der deutschen Ostseeküste. Beckert sorgte im späteren Ostseebad Karlshagen für den Bau eines Hotels, welches bald zu einem Aushängeschild für die ganze Insel Usedom werden sollte. Zunächst profitierte das Strandhotel „Nordstern“ lange von der Monopolstellung im Ort. Jürgen Beckert erweiterte das Hotel durch den Baltic Spa, einen großzügigen Wellness-Bereich, konnte dabei eine der Fördermitteltranchen nutzen, die für diese Branche des Tourismus vergeben wurden. Dabei ging sogar alles mit rechten Dingen zu.

      Doch ihn lockte das Spektakuläre, das Einmalige. Der Blick auf die Karte des Inselnordens zeigte ihm eine Stelle, die genau in der Mitte zwischen Erholung und Geschichte, zwischen Ostseestrand und dem Ort Peenemünde lag. Dort, wo der Wald der östlichen Inselhälfte an die Wiesen am Peenestrom grenzte, sollte sein neues Objekt entstehen, unmittelbar an der Straße und der Bahnlinie nach Peenemünde.

      Unter dem Namen Space Resort wollte Jürgen Beckert hier ganz neue Dimensionen schaffen, eine internationale Klientel an eben den Ort holen, der wie kein anderer auf Usedom, ja in ganz Deutschland, das Recht zu einem solchen Hotelnamen hatte. Obwohl die Bezeichnung Hotel für sein Projekt eher untertrieben sein würde. Ein neuer Haltepunkt war mit der Bahn so gut wie vereinbart, die Straßenanbindung mit wenig Aufwand in eigener Regie herzustellen. Dass sich nicht weit von dem Standort alte Bunkeranlagen befanden, hängte er lieber nicht an die große Glocke. Es reichte, wenn die Denkmalschutzbehörden und einige Einheimische davon wussten. Aber für einen künftigen Event-Urlaub waren es exzellente Voraussetzungen.

      Mit seinem jungen und engagierten Haustechniker Daniel Fischer hatte Beckert einen guten Griff getan. Zufällig erwischte er Fischer, wie dieser ein Stück seltsam geformtes Metall im Heizungskeller zwischenlagern wollte, stellte ihn zur Rede und erfuhr dabei von dessen Hobby.

      Fischer gab unumwunden zu, einer der zahlreichen Technikfreaks zu sein, die bis heute in dem weitläufigen Areal zwischen Peenemünde und Karlshagen nach alten, in irgendeiner Weise verwertbaren Raketenteilen suchten. Die meisten von ihnen wurden dann im Internet zu horrenden Preisen angeboten. Das war aber nicht das Ziel von Fischer. Er interessierte sich ausschließlich für Funktion und Wirkungsweise seiner Fundstücke.

      Beckert erkannte sofort den Nutzen, den Fischer für sich und seine Visionen darstellte. Von diesem Zeitpunkt an erforschte Fischer nicht mehr nur auf eigene Rechnung, sondern auch für seinen Arbeitgeber die Umgebung des künftigen Space Resorts.

      Mit großem Interesse und dem wohl angeborenen Geschäftssinn hatte Beckert von Beginn an die Entwicklung Peenemündes verfolgt, erahnte das Potenzial dieses Ortes bereits zu einem Zeitpunkt, als andere über die Ruinen schimpften. Und genau darauf baute er seine Pläne, dachte weiter als, jedenfalls nach seinem Urteil, die meisten Konkurrenten seiner Branche in der Region, ganz zu schweigen von den dafür verantwortlichen Verwaltungsmenschen und Politikern.

      Leider konnte er diese nicht ignorieren. Er kam an ihnen, die am langen Hebel der Genehmigungen saßen, nicht vorbei. Manchmal half nur der Einsatz seiner spezifischen und oft bewährten Mittel.

      Nun aber plagten Jürgen Beckert ganz irdische Sorgen. Wenn die Pläne zum Deichrückbau Wirklichkeit werden sollten, war dieses Projekt offenbar gefährdet. Wer würde das Gebiet nach Südwesten vor dem Wasser schützen? Noch stand kein Haus, als Merkmal bebauter und damit staatlicherseits vor Hochwasser zu bewahrender Gebiete. Das einzelne Gehöft an dieser Stelle hatte er zwar bereits gekauft, es war jedoch unbewohnt.

      Ärger auf Joachim Walter kam hoch. Er wollte ihn zur Rede stellen. Zwar musste er dabei etwas sensibel vorgehen, denn ohne Walters direkte, aber schwer nachweisbare Unterstützung hätte er nie die Baugenehmigung an dieser Stelle erhalten. Zum Glück war Walter damals noch in der Umweltbehörde des Kreises tätig. In unmittelbarer Nachbarschaft des Baugeländes befand sich ein besonders schützenswertes Biotop mit einem Seeadlerhorst.

      Und sein Kontostand bekam dadurch nur eine für seine Verhältnisse kleine Delle. Andererseits hatte er Walter damit gewissermaßen ebenso in der Hand. Ein gerade gewählter Bürgermeister, dem Korruption nachzuweisen war, gab kein gutes Bild ab.

      Was also tun? Beckert sah, dass seine Uhr gerade 12 Uhr anzeigte. Wollen wir doch mal sehen, wie genau die Beamten ihre Mittagspause nehmen, dachte er mit einem Anflug von Schadenfreude und bat seine Sekretärin, ihm eine Telefonverbindung zum Bürgermeister Walter herzustellen.

      „Moment, ich übergebe“, sagte sie kurz darauf und reichte ihm den Hörer mit einem besorgten Gesichtsausdruck.

      Beckert erfuhr, dass Joachim Walter heute nicht zum Dienst erschienen und seit neun Uhr offiziell als vermisst galt, da sein Auto leer aufgefunden worden war. „Die Polizei aus Wolgast war schon hier und hat sein Dienstzimmer in Augenschein genommen.“

      Beckert brachte lange keinen Ton heraus. „Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen“, endete die Sekretärin und legte auf.

      Jürgen Beckert versuchte, die Situation zu analysieren. Joachim würde ja wohl nicht so dumm sein und gefährliche Unterlagen in seinem Büro aufbewahren. Diese Gefahr schloss er aus. Wer könnte ein Interesse am Verschwinden Walters haben? Wem war er auf die Füße getreten? Solche wagemutigen Handlungen konnte sich Beckert allerdings bei Walter kaum vorstellen. Vielleicht der Deichrückbau? Beckert war selbst Zeuge der Amtseinführung Walters, hatte sich auch schon beim ersten Mal vehement gegen die Pläne gestemmt, die Bürgerinitiative unterstützt, wenn auch nur insgeheim, denn mit der Verwaltung durfte er sich nicht öffentlich anlegen.

      Gut möglich, dass jemand ganz spontan sein Mütchen kühlen wollte.

      Oder hat vielleicht Erika genug bekommen von Joachims speziellen Aktivitäten? Nein, ausgeschlossen, denn sie hat ihn ja als vermisst gemeldet. Beckert dachte kurz nach. Aber das eine muss doch das andere nicht ausschließen!

      Vielleicht ist er einfach abgetaucht! Hat alles vorgetäuscht! Für Jürgen Beckert gab es kaum etwas Undenkbares, denn er betrachtete andere mit den Maßstäben seines eigenen Handelns.

      Auch nach längerem Nachdenken kam Jürgen Beckert zu keinem Ergebnis. Seine Gedanken konzentrierten sich schließlich auf die Befürchtung, dass im Zuge eventueller Untersuchungen doch noch etwas von seinem Deal mit Walter an die Öffentlichkeit dringen würde. Und dass sein Projekt dadurch wieder ins Wanken geraten könnte.

      Er dachte nach. Im Grunde war, nein, ist Walter ein cleverer Mann, mit dem immer gut auszukommen war. Der wusste sofort, worauf es ankam, hatte die nötigen Verbindungen und fand wie ein Trüffelschwein meist den richtigen Zugang. Beckert mochte Walter und hatte zu ihm ein Verhältnis aufgebaut, das man vorsichtig als vertrauensvoll bezeichnen könnte, wenn es das zwischen Wirtschaft und Verwaltung ohne die besonderen Zutaten überhaupt geben konnte.

      Ein leises, lange nicht gehörtes akustisches Signal ertönte ein einziges Mal. Nach kurzer Überlegung, woher es stammen könnte, erinnerte er sich und nahm sein, wie er es nannte, „individuelles Handy“ zur Hand, auf dem eine Nummer angezeigt wurde. Wie für solche Fälle vereinbart, rief er sofort zurück, ohne seinen Namen zu nennen.

      Während des etwa zweiminütigen Gesprächs nahm er zwar eine konkrete Bitte entgegen, konnte diese aber nicht in den Rahmen aktueller Ereignisse einordnen. Mit entsprechend verhaltener Nachdrücklichkeit bat er daraufhin die Sekretärin, nach Daniel Fischer zu suchen. „Der hat heute frei, ist erst morgen früh wieder im Dienst“, kam sofort die Antwort.

      „Dann soll er morgen früh gleich zu mir ins Büro kommen.“