Rainer Holl

Flut über Peenemünde


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      Diana Schakowski schaute regelmäßig auf die vielen Monitore, für deren Überwachung sie zuständig war. Aus der ganzen Welt trafen in der Warnemünder Außenstelle des Deutschen Wetteramtes ständig neue Informationen ein, und genau das faszinierte die Frau seit mehr als dreißig Jahren an ihrem Beruf – diese unbegrenzte Weite. Für sie gab es weder Länder- noch Kontinentalgrenzen. Schon zur Zeit der scharf bewachten DDR hatte sie das Gefühl, über diesen zu stehen, ja bereits die Globalisierung zu leben, von der damals erst in Anfängen die Rede war.

      Und dann die Unberechenbarkeit. Mit nachsichtigem Lächeln verfolgte sie die oft in den Medien kommentierten langfristigen Prognosen von Möchtegern-Experten, die lediglich Aufsehen erregen wollten. Einmal in den Schlagzeilen erwähnt zu werden, schien deren Ziel zu sein.

      Diana Schakowski war dagegen Seriosität gewohnt, die sie selbst auch konsequent durchsetzte. Immer noch dachte sie belustigt an den Anruf des Rügener Touristik-Managers, der ihr mitten in der Sommersaison erklärte, wie wichtig eine Wetterprognose sei, die niemanden von der Fahrt an die Ostseeküste abhalten würde. Ob sie denn nicht ihre Toleranzbreite entsprechend ausreizen könne.

      Mit diesem Gedanken sah sie auf die Wetterprognose aus Richtung West. Das Sturmtief „Silvia“ erregte ihre Aufmerksamkeit. Nachdem lange Zeit alle Tiefdruckgebiete weibliche Namen trugen, wurde dieses System geändert. In ungeraden Jahren bekamen die Tiefs männliche und die Hochs weibliche Namen, in geraden war es umgekehrt. Offenbar wurden mit einem Tiefdruckgebiet negative Emotionen verknüpft, die dann nicht noch zusätzlich mit dem weiblichen Geschlecht verbunden werden sollten. Diese Art von Gedankengängen war Fachleuten wie Diana Schakowski völlig fremd, sie mussten von selbst ernannten Feministinnen stammen.

      Situationsmeldungen zu „Silvia“ aus Großbritannien und Irland lagen bereits vor. Ein Vergleich kam ihr in den Sinn. Wenn man von den Ostfriesen sagt, dass sie schon morgens sehen können, wer abends zu Besuch kommt, dann traf das für die Mecklenburger in anderer Hinsicht auch zu. Mit Blick auf die europäische Wetterkarte können sie viel besser berechnen, was an Elementargewalt auf die Ostseeküste zukommt, denn die Herkunftsregion von Stürmen war in den allermeisten Fällen der Atlantik im Westen. Automatisch griff bei ihr ein Mechanismus, für möglicherweise eintretende Gefahrensituationen ein Gefühl zu entwickeln.

      Vorsichtshalber gab sie eine Warnung an ihre Vorgesetzten weiter: In der kommenden Nacht würde sich der schon tagelang anhaltende starke Westwind an der deutschen Ostseeküste noch verstärken. Das bedeutete Gefahr für Sturmhochwasser an den Küsten des Darß und der Insel Hiddensee, aber Niedrigwasser an den Ostküsten von Rügen und Usedom. Zu erwarten waren Böen mit mehr als hundert Stundenkilometern. Wie zur Bestätigung schlug das nicht gesicherte Fenster des Büros mit lautem Knall zu.

      Hoffentlich würde dann der Wind nicht so bald drehen. An ein solches Szenario wollte sie lieber nicht denken. Mit diesen Überlegungen beendete Diana Schakowski für diesen Tag ihre spannende Arbeit, die nur für Außenstehende den Anschein von Routine hatte.

      12 Freitag, 2. November, 15.30 Uhr

      Pia Bergner blickte aus dem Fenster ihres kleinen Büros auf die Gruppe von etwa fünfundzwanzig Besuchern, die auf ihre Führung wartete. Solche Aufgaben übernahm sie gerne. Sie musste auf vielfältige Fragen die Antwort parat haben. Das war für sie mittlerweile mehr als Routine geworden. Überdeutlich war aus den Fragen das große Interesse der Besucher für die technischen Leistungen der damaligen „Peenemünder“ herauszuhören. Leider konnte Pia auf viele Detailfragen mangels technischer Grundkenntnisse nicht antworten. Als besondere Freude empfand sie den Rundgang mit einer Gruppe schwedischer Besucher einige Tage zuvor, die ebenso erfreut waren, ohne Dolmetscher dieses im Norden sehr bekannte Museum erkunden zu können.

      Die heutige Führung hatte noch einen besonderen Teilnehmer. Sie begrüßte den Verursacher ihres morgendlichen Unfalls kurz mit einem freundlichen Nicken.

       Völlig unverhofft war er mit seinem dunklen Audi aus einem Waldweg auf die Straße zwischen Karlshagen und Peenemünde gekommen, an einer Stelle, an der Pia gar nicht mit einer solchen Möglichkeit rechnete. Durch ein blitzschnelles Ausweichmanöver mit ihrem kleinen Volvo konnte sie zwar einen Frontalzusammenstoß verhindern, dabei streifte sie jedoch den Holzzaun, der gegen die Schwarzparker an der Straße gebaut worden war. Zum Glück war ihre Geschwindigkeit in der Kurve nicht hoch, sie kam kurz darauf zum Stehen.

       Wütend war sie ausgestiegen und hatte den Schaden betrachtet. Die langgezogene Delle an ihrem Auto konnte nicht übersehen werden. Nachdem auch der Fahrer des Audi seinen Wagen verlassen hatte, erkannte sie ihn mit seinen auffallend dunklen, gegelten Haaren und gewann langsam ihre Fassung zurück. „Sie sind das also. Mit dem Ferien­haus waren Sie aber freundlicher zu mir.“

       Ihr Ärger verflog im gleichen Takt wie ihre innere Erregung zunahm. Jetzt hatte auch der Mann sie erkannt. „Ja, ich bin es. Stimmt, ich bin eigentlich von Natur aus freundlich, besonders zu … Damen, die es wert sind.“

      „Na na, allein mit Komplimenten kommen Sie aus dieser Sache aber nicht heraus.“

      „Da haben Sie wohl Recht. Ich werde die Polizei benachrichtigen und kann mich zunächst nur entschuldigen. Zum Glück ist Ihnen ja wohl nichts passiert.“

       Es war Andreas Schmidt, der Makler, der ihr das kleine Ferienhaus für die Zeit ihres Aufenthaltes vermittelt hatte. Schon beim ersten telefonischen Kontakt war Pia von der Stimme des Mannes fasziniert. Die Schlüsselübergabe vor Ort bestätigte dessen Ausstrahlung. Sie versuchte, den im Sinkflug befindlichen Ärger und ihre gleichzeitig steigende freudige Erregung über das erneute Zusammentreffen halbwegs glaubwürdig erscheinen zu lassen. Angesichts der unglücklich verlaufenen ersten persönlichen Begegnung wollte sie diese Chance unbedingt nutzen. Sie war damals schon im Begriff, sich mit dem Makler zu verabreden, als eine neu eintreffende Kundin dem Versuch ein Ende setzte.

       Drei Wochen Aufenthalt in Deutschland hatten nicht nur räumlich etwas Abstand zwischen sie und Nils Pettersson gebracht. Obwohl sie mehrfach telefonierten, wurden die Zweifel bei Pia immer stärker, was die Perspektive einer dauerhaften Beziehung zu dem Raketenenthusiasten betraf.

       Nach dem Schweden Nils war nun der Deutsche Andreas Schmidt der erste Mann, für den sie sich seit dem Tod ihrer Mutter ernsthaft interessierte.

       Die Zeit bis zur Ankunft der Polizei für die Unfallaufnahme nutzten sie für ein Gespräch, das in einer angenehmen Atmosphäre mündete, beide gaben sich unbewusst einander einige Sympathiepunkte.

      „Danke für das Gespräch, wir sollten uns nicht aus den Augen verlieren“, konnte er ihr gerade noch vorschlagen, ehe die Polizei eintraf.

      „Gerne“, antwortete sie nach einer gebotenen sekundenlangen Pause, „kommen Sie doch heute um 14.30 ins Museum. Ich habe eine Führung zu leiten, Sie können sich anschließen. Oder kennen Sie das Museum schon?“ Sie nahm zur Kenntnis, dass er zwar zusagte, doch nicht auf ihre Frage antwortete.

      Die Gruppe hatte sich zu ihrem Reisebus zurückgezogen. Pia und Andreas Schmidt standen etwas verloren auf dem Außengelände. Die Deutsch-Schwedin war mit ihrer Führung zufrieden, hatte sich auch gegenüber ihrem persönlichen Gast offenbar von der besten Seite gezeigt.

      Pia wartete auf entsprechende Signale, denn sie kannte trotz aller Hemmnisse ihre Rolle als Frau, brachte es ohne Mühe fertig, sehr gut damit zu spielen. Statt ihm neugierig und erwartungsvoll in die Augen zu blicken, wie es ihr Inneres gerade empfahl, schaute sie so auffällig auf ihre Uhr, dass er es bemerken musste.

      Schließlich kamen ihre Ohren doch noch zu ihrem Recht.

      „Wollen wir die eben gesehene Vergangenheit vertiefen oder lieber über stürmisches Wetter plaudern?“, hörte sie seine Stimme. Der kaum merklich unsichere Klang blieb ihrem feinen Gespür jedoch nicht verborgen. Nun musste sie reagieren.

      „Was halten Sie davon, dem Sturm mit der Vergangenheit im Rücken ins Gesicht zu blicken?“, gab sie zurück