E. K. Busch

Einer von Zweien


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verließen den Wald und traten auf die Felder hinaus. Der Himmel war düster und die Wolken hingen tief. Eine einsame Eiche stand zwischen den Feldern auf dem Rücken eines sanften Hügels. Es war ein schöner Baum, wie er da so verloren und doch stark stand. Als Kinder waren wir gerne hinaufgeklettert. Beim letzten Mal war Fred hinuntergefallen und hatte sich das Bein gebrochen. Mit Marion nun meinte ich den Baum zum ersten Mal seit Jahren wiederzusehen, als begegnete man einem alten Bekannten. Auf halber Strecke ins Dorf, dicht am Waldrand, lag das Haus auf dem Hügel. Es war nun gut zu unserer Linken zu sehen, wo die Bäume noch keine Blätter trugen und sich gerade die ersten Buschwindröschen und Leberblümchen vorwagten. Im Sommer lag es von dieser Seite aus hinter hohen Bäumen verborgen.

      Wir folgten dem Trampelpfad auf dem Hügelrücken Richtung Eiche. Diesen Weg hatte ich seit Jahren nicht genommen. Er endete bei dem stattlichen Baum, war eine Sackgasse.

      „Und?“, fragte Marion nach, da ich ihr noch immer keine Antwort gegeben hatte

      Ich sah sie einen Moment etwas verwirrt an, dann erklärte ich: „Aber muss denn nicht auch das Empfinden von Lust und Unlust eine Ursache haben?“

      „Für dich bestimmt!“, erwiderte sie und freute sich über die passende Bemerkung, setzte dann hinzu: „Und wenn man nur hartnäckig genug nach einem Grund sucht, findet man sicherlich auch einen.“

      „Du glaubst also nicht an einen Grund?“, fragte ich sie erstaunt.

      Sie hob gleichgültig die Arme.

      „Vielleicht gibt es einen, vielleicht gibt es keinen. Auf jeden Fall aber gibt es das, was wir fühlen. Und mir persönlich reicht es völlig aus, mich daran zu halten.“

      Wie liefen noch ein paar Meter Richtung Baum, dann meinte sie: „Ich frage mich manchmal, in wie weit diese ganze Erforschung den Menschen nicht nur unglücklich macht. Sie entwertet sein Empfinden.“

      „Du bist also für das Schöngeistige. - Ich muss sagen“, bemerkte ich lächelnd: „Dass bei dir auch alles ziemlich gut zusammenpasst.“

      „Danke schön“, erwiderte sie grinsend: „Ich nehme das als Kompliment.“

      Wir erreichten den knorrigen Baum und blieben einen Moment stehen, blickten hinunter aufs Dorf. Aus einem Impuls heraus berührten wir beide den Baumstamm. Marion lächelte, als sie es bemerkte.

      „Ein wenig fühlt man sich hier oben wie Capar David Friedrich. Oder zumindest wie dieser Kerl auf seinem Bild.“

      Ich lachte auf und bemerkte: „Der Wanderer über dem Nebelmeer? Das Bild ist grauenhaft kitschig.“

      „Romantisch“, verbesserte sie mich.

      „Dann ist es eben grauenhaft romantisch.“

      Sie kicherte und bückte sich dann hinab zu dem Hund, vergrub ihr Gesicht im struppigen Fell des Tieres und fuhr ihm mit ihren zarten Fingern durch das lange Haar.

      „Siehst du, Gretchen, da hinten wohnen wir beide!“, und sie deutete mit ihrem Zeigefinger auf ihr Elternhaus. Es lag etwa fünf Minuten strammen Fußmarsches weit entfernt und war auch aus dieser Distanz sehr deutlich als ziemlich spießiger und protziger Bau zu erkennen. In dieses Sechsziger-Jahre-Ungetüm hatte Marions Vater – der Apotheker – sein ganzes Geld gesteckt.

      Der Hund schien jedoch ziemlich desinteressiert am Ausblick und so richtete sich das Mädchen wieder auf und strich sich seinen Mantel glatt, verzog den Mund, als sie den ganzen Dreck auf dem feinen Stoff bemerkte.

      „Wie dem auch sei, Konrad“, und sie blickte auf ihre goldene Armbanduhr: „Ich muss mich jetzt beeilen mit dem Nach-Hause-Kommen, bin schon wieder viel zu spät dran. Fred kommt gleich mit dem Moped, um mich zum Ballettunterricht zu bringen.“

      „Stimmt“, erwiderte ich: „Es ist ja Samstag.“

      „Genau“, entgegnete sie. „Samstag. – Aber wenn du magst, können wir ab jetzt öfter gemeinsam spazieren gehen. Es macht mehr Spaß zu zweit als alleine. - Und du kannst Gretchen auch mal mitnehmen, wenn du laufen gehst. Das würde ihr sicherlich gefallen.“

      Ich nickte und wollte etwas erwidern, als sie erklärte: „Ich muss mich jetzt wirklich beeilen“, und sie eilte den Abhang hinab, den Hund zu ihrer Seite.

      „Vielen Dank für das schöne Gespräch“, rief sie mir noch zu und winkte mir zum Abschied. Ich blieb verdutzt zurück.

      „Marion findet dich ganz in Ordnung“, erklärte mir Fred am Abend und machte sich ein wenig über mich lustig, als er hinzufügte: „Du scheinst sie mit deinem intellektuellen Geschwafel beeindruckt zu haben!“

      Fred nämlich hatte schon seit einigen Jahren nicht mehr viel übrig für meine Vorträge. Ziemlich plötzlich war seine Abneigung gegenüber ernsten Unterhaltungen aufgetaucht. Vielleicht schien mir sein Banausentum deshalb aufgesetzt. Oder aber es ging schlicht über meine Vorstellungskraft, dass er nicht diesen Drang empfand, den Dingen auf den Grund zu gehen, wo es mir doch beinahe unerträglich war, wie wenig ich erst wusste von der Welt.

      „Sie hält dich jetzt für verdammt klug, Mann“, fügte Fred spöttisch hinzu und ich erwiderte besorgt: „Ich hoffe, ich habe sie nicht allzu gelangweilt mit meinem Gerede.“

      „Das glaube ich nicht“, sagte Fred leichthin und verschwand dann in seinem Zimmer.

      Ich traf häufiger auf Marion in diesem Frühjahr. Zugegebenermaßen nicht ganz zufällig. Sie spazierte meist die selbe Strecke mit ihrem Hund und dies stets zwischen drei und fünf Uhr. Ich genoss die Unterhaltungen mit ihr. Sie sprach gerne über Literatur, Kunst und Musik, hatte auch ziemlich solide Kenntnisse. Für die Moderne hatte sie nichts übrig, war ganz der Klassik zugetan. Ich nahm an, dass diese Meinung der ihres Vaters entsprach. Sie äußerste diese auch mit einer Vehemenz und Absolutheit, die ihrem Alter und ihrer Erfahrung unangemessen schien. – Ich legte mich daher nicht mit ihr an in diesen Geschmacksfragen. Zumal ich auch das Gefühl nicht loswerden konnte, dass Marion sich ziemlich viel auf ihre Kultiviertheit einbildete und ein Widerspruch für sie einer Beleidigung gleichgekommen wäre.

      Dennoch: Marion war ein heiteres und aufgewecktes Mädchen und wir führten viele lebendige Unterhaltungen. Sprach ich über Religion oder Philosophie hörte sie mir aufmerksam, ja beinahe ehrfürchtig zu, und als sie mich bat, ihr in Latein Nachhilfe zu geben, willigte ich nur allzu gerne ein. Fred beäugte unsere Freundschaft beinahe belustigt.

      „Sie hat es raus, das muss man ihr lassen!“, erklärte er lachend.

      Ich sah ihn fragend an.

      „Sie hat dich nicht weniger um den Finger gewickelt als mich“, fügte Fred hinzu.

      „Jetzt gibst du ihr schon kostenlos Nachhilfe und freust dich noch darüber. – Und ihren Hund führst du mittlerweile auch für sie aus! Zumindest bei schlechtem Wetter!“

      Und obwohl Fred Recht hatte, konnte ich mich doch nicht als Verlierer betrachten.

      *

      Es wurde Sommer und mittlerweile waren die Stunden mit Marion Teil meiner Woche wie die Stunden bei Frau Reger oder es die Stunden bei Doktor Eichinger einst gewesen waren.

      Bei schönem Wetter saßen wir bei ihr im Garten und tranken Limonade beim Lernen. Regnete es dagegen, saßen wir in ihrem Zimmer. Dann setzte sie sich im Schneidersitz auf ihre geblümte Bettwäsche und der seidene Himmel hing über ihr wie ein Baldachin. Ich saß dann auf der Fensterbank, die Beine angezogen und betrachtete die Regentropfen, die die Scheibe hinunterliefen. Dann und wann warf ich ihr einen Blick zu, wie sie dasaß, auf ihrem Füller kaute und ihre Aufgaben machte. In den Sommerferien trafen wir uns jeden Samstag und Mittwoch. Nur ein paar Tage verbrachte sie mit Fred bei ihrer Tante in der Stadt und zwei Wochen war sie mit ihren Eltern in Italien.

      Fred warf mir ein amüsiertes Grinsen zu, als ich am späten Nachmittag das Lateinbuch unterm Arm das Haus verließ. Es war ein heißer Augusttag gewesen und die Hitze hing noch immer in den Straßen. Als sie mir die Tür öffnete, sprang mir Gretchen entgegen.