E. K. Busch

Einer von Zweien


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hatte schon recht bald verstanden, dass in der Schule eigenes Denken unerwünscht war. Es handelte sich um einen Ort der Wiedergabe. Ob es sich dabei nun um das Wissen handelte, was im Schulbuch zu finden war, oder das Wissen, das der Lehrer verkündete: Mein Verstand war nicht beteiligt. Die Erkenntnis, dass eigenes Denken fehl am Platze war, kam mir bereits in der ersten Klasse. Da zeigte sich Frau Tann als völlig uneinsichtig. Als ich ihr klarzumachen versuchte, dass der 17. Buchstabe des Alphabets, das Q, doch auch anders geschrieben werden könnte, da diese Schreibweise einfacher, ebenso lesbar und überhaupt praktischer wäre, nahm sie meinen Kommentar nicht einmal ernst und lächelte lediglich müde. So setzte es sich in einem fort. Man beharrte stur auf Regeln, so sinnlos und unergiebig sie auch sein mochten. Mathematikaufgaben durften nur auf dem vorgeschriebenen Weg gelöst, Ereignisse nur bewertet und Texte nur interpretiert werden, wie der Lehrer es verlangte und zu begreifen vermochte.

      Es stand für mich bald eindeutig fest: Hier waren eigene Ideen nicht erwünscht und der begrenzte Horizont der Lehrer müsste fürs nächste auch der meine werden. Meine Aufgabe als guter Schüler bestand demnach darin, die Gedanken und Ideen der Männer und Frauen dort vorne zu erahnen. Und bald schon erwies ich mich als wahrer Meister in dieser Disziplin.

      *

      Fred hatte die Gymnasialempfehlung trotz seiner offensichtlichen Mittelmäßigkeit wohl erhalten, da man annahm, er wäre als mein Zwillingsbruder zu ebensolchen intellektuellen Leistungen fähig wie meine werte Wenigkeit. Das war er aber nicht! Nicht, dass er dümmer gewesen wäre! Ehrlich gesagt hatte ich sogar häufig den Eindruck, er war um einiges klüger. Aber er war faul. Und eine Erkenntnis fußte nun mal auf der anderen. Wissen um Fakten und Zusammenhänge musste man sich hart erarbeiten, da halfen auch alle Geistesblitze und originellen Einfälle nichts.

      Aber konnte man dem Jungen verübeln, dass er lieber mit seinen Freunden hatte Fußball spielen oder schwimmen gehen wollen, er lieber Baustein-Städte errichtet oder in seinem Baumhaus gesessen und gefaulenzt hatte?

      Tatsache war auf jeden Fall: Ich hatte nach wenigen Jahren schon so viel Vorsprung im Denken, dass Fred mich nie mehr hätte aufholen können, selbst wenn er sich tüchtig ins Zeug gelegt hätte. Doch selbst damals schon dachte ich hin und wieder, dass ihm seine Faulheit nur zugute kam. Denn Fred, der jeden Morgen Mühe mit dem Aufstehen hatte, stets verkündete, er bliebe lieber Zuhause und die Schule sei blöde, fühlte sich dort tatsächlich weit wohler, als ich es jemals tat. Er war unter den Klassenkameraden sehr beliebt und sogar die Lehrer hatten ihn gern. Ich dagegen hatte stets das Gefühl, dass mich weder Lehrer noch Schüler leiden konnten. Natürlich schätzte man meine Freundlichkeit, Höflichkeit und Hilfsbereitschaft, meine Kameradschaftlichkeit, denn eine Petze war ich nie. Aber niemand konnte mein fortwährend beispielhaftes Verhalten ertragen. So war ich meist allein.

      Doch um ehrlich zu sein: Ich hätte ohnehin keine Zeit gehabt, mich mit Freunden zu treffen. Schließlich wollte ich meine Hausaufgaben gründlich und ordentlich erledigen, hatte ich mich vorzubereiten auf meine Gespräche - Auseinandersetzungen - mit Doktor Eichinger und im Laden zu helfen. Denn Vater konnte, wenn ich im Laden die Stellung hielt, im Hof sitzen und schnitzen, Mutter hatte dann Zeit zur Haus- und Handarbeit. Seit ein Supermarkt im Nachbarort eröffnet worden war, warf der Laden nicht mehr sonderlich viel ab. Ich versuchte meinen Teil beizutragen, in dem ich meinen Eltern zur Hand ging, wo ich nur konnte. Meist erledigte ich meine Hausaufgaben hinter der Ladentheke. Und Samstagmorgen war ich es, der pünktlich um 7:00 Uhr öffnete, damit der Rest der Familie ausschlafen konnte. Noch vor der Schule verkaufte ich die ersten Zeitungen.

      Ich pflegte innige Beziehungen zu vielen Rentnern im Dorf, denen ich auch die Einkaufstaschen nach Hause trug. Hier und da gab es ein kleines Taschengeld für meine Mühe und Frau Reger unterrichtete mich zur Gegenleistung im Klavierspiel. Jeden Dienstag.

      Sich selbst tat Frau Reger dabei allerdings den größten Gefallen, denn sie war seit dem Tod ihres Mannes eine sehr einsame Frau. Fred war anfangs auch mitgekommen, hatte aber schon recht bald die Lust am Musizieren verloren. Ich übte fleißig trotz mangelnder Begabung. Fast jeden Nachmittag von meinem achten Lebensjahr an verbrachte ich eine Stunde bei Frau Reger, sie kochte dann währenddessen oder bügelte, und am Dienstag wie gesagt unterrichtete sie mich.

      Zwar war ihr Haus auf das Penibelste geputzt und jedes Etwas schien einen eignen Platz zu besitzen, alles äußerst adrett und gepflegt, doch das Wohnzimmer befand sich dauerhaft im Ausnahmezustand. Um zum Klavier zu gelangen, musste man erst einmal über einige Kartons steigen, deren Deckel nur schräg auf den Kisten lagen, weil diese so voll mit Kram waren. Es folgten ein kaputter Plattenspieler, abgehängte Bilderrahmen mit alten Fotos hinter den staubigen Scheiben, einige vertrocknete Topfpflanzen, Aktenordner und schließlich ein Durcheinander an Papieren und Dokumenten, das sich über den Teppich ergoss. Nur wenn Frau Reger mich unterrichte, waren die Gardinen aufgezogen. Die Frau verbot mir, die schweren Vorhänge eigenmächtig zur Seite zu ziehen. So spielte ich Mittwoch bis Montag selbst bei helllichtem Tage im Licht einer staubigen Lampe. Auf der Fensterbank hatten zu Beginn meines Unterrichts genau drei tote Fliegen gelegen. Ich hatte damals Mühe gehabt, meinen Ekel zu verbergen. - Sauber war es bei uns daheim immer gewesen. Bei meinem letzten Besuch im Haus der alten Dame, mehr als zehn Jahre später muss das gewesen sein, hatte ich an die zwanzig Fliegen gezählt. Ich hatte mich bis zuletzt nicht an ihren Anblick gewöhnen können.

      War Frau Reger einmal nicht daheim, versteckte sie einen Schlüssel für mich im Schuppen unter einer chinesisch anmutenden Porzellanvase. Unzählige Spinnen lauerten in diesem Bretterverschlag.

      Nach einigen Jahren fleißigen Übens durfte ich jeden Sonntag die Kirchenorgel spielen. Das erste Mal wohl mit etwa dreizehn Jahren. Papa war sehr stolz, Mutter verbiss sich jegliche Worte des Lobes. Und tatsächlich war auch ich nie mit meinem niemals fehlerfreien Spiel zufrieden, das im großen Kirchenschiff besonders schauerlich erklang. Vor Frau Regers Kritik immerhin brauchte ich mich nicht zu fürchten, da sie zwar selbst einmal die Orgel gespielt hatte, sie jedoch nicht länger die Predigt besuchte. Mit dem Pfarrer hatte sie sich schon vor langer Zeit zerstritten. Gerüchten zufolge hatte er ihren Ehemann nicht auf dem Friedhof beerdigen wollen, nachdem sich dieser wohl eines schönen Tages im Schuppen erhängt hatte. Tatsache war zumindest, dass Herr Reger im Nachbarort beerdigt worden war und Frau Reger die Kirche mied wie Fred die Besenkammer.

      An das Anrücken des Notarztes und der Polizei in jener Februarnacht vor fast zwanzig Jahren waren beinahe so viele Gerüchte im Umlauf, wie über jenen Tag, als Vater den toten Poko durchs gesamte Dorf geschleift hatte. Damals war er vielleicht sechs Jahre alt gewesen. Ein schmächtiger Junge.

      Wie Poko den Tod gefunden hatte, der große schwarze Wachhund, der auf dem Hof ziemlich gefürchtet gewesen war, sollte für immer ein Rätsel bleiben. Fest stand lediglich, dass der kleine Jupp den toten Hund zum Friedhof gezogen hatte, ohne eine Miene zu verziehen. Den ganzen Hügel hinauf bei brütender Mittagshitze. Es wäre im Übrigen geschickt gewesen, Mutter hätte uns von Vaters großem Auftritt berichtet, bevor Tizian Effner uns als Söhne eines irren Bastards und Hundemörder bezeichnet hatte. Dass wir die dämlichen Söhne eines Idioten seien, waren wir zu hören gewöhnt, aber dass Vater nun auch noch verrückt und blutrünstig war, das war doch neu für uns. Und Schwachsinn ließ sich auch viel schlechter widerlegen als Dummheit.

      Aber wollte ich nicht von Hannelore Reger erzählen? Meiner Klavierlehrerin?

      Nun im Vergleich zu Doktor Eichinger war sie eine durchaus verträgliche Person. Sie war eine etwas dickliche, ziemlich große Frau – wobei ihre üppig gedrehten Locken sie noch größer erscheinen ließen - mit langen Fingernägeln, die jeden Ton, den sie auf dem Klavier spielte, mit einem Klicken untermalten. War es mal wieder soweit, so legte sie ihre qualmende Zigarette für einen Moment auf den Porzellanteller neben dem Notenständer und erklärte: „Konrad, höre jetzt Mal genau zu. Du musst hier staccato spielen und nicht alles legato. Wie klingt das denn sonst? Als ob einer besoffen wäre!“

      Dann ließ sie ihre faltigen Hände über die Tasten fliegen und ich konnte ihrem Spiel nur staunend folgen. Trotzdem war dieses Klicken entsetzlich.

      Ich verbrachte aber nicht all meine Freizeit im Laden, bei Doktor Eichinger, Frau Reger oder beim Beten. Manchmal nahm mich Fred auch mit in