E. K. Busch

Einer von Zweien


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du musst schwimmen, schwimmen!!!“

      Doch er versuchte noch immer, gegen die Strömung anzukämpfen. Und mit seinen Füßen konnte er einfach keinen Halt auf den glitschigen Kieseln finden. Inzwischen war er völlig außer sich, obwohl ihm das Wasser höchstens bis zur Schulter reichen mochte.

      „Konrad...“

      Seine Stimme wurde leiser, wie er da in die Ferne trieb. Ich sah ihm reglos hinterher, diesem kleinen Jungen, der da immer wieder meinen Namen rief. Und da machte sich dieses Gefühl in meiner Brust breit. Keine Freude. Gleichgültigkeit. Dann sollte es das also gewesen sein. Na schön. Eine Umstellung wäre es wohl, aber ich könnte mich damit arrangieren. Eine Woche vielleicht. Aber Mutter würde vermutlich ziemlich wütend sein. Schließlich war er doch mein Bruder und ein Bruder hatte nun einmal auf den andren acht zu geben. Kain und Abel: Soll ich denn der Hüter meines Bruders sein? Und überhaupt: Er war mein Bruder. Mein Bruder, den ich liebte wie nichts auf der Welt.

      Ich rannte so schnell ich konnte. Rannte. Rannte, wie ich noch nie zuvor gerannt war. Ignorierte den Schmerz, die angestoßenen Zehen, die zerschnittenen Sohlen. Ich rannte. Als ich ihn eingeholt, überholt hatte, warf ich mich ein Stück vor ihm ins Wasser, dass es zu allen Seiten spritzte.

      „Frederik! Ich bin da!“

      Ich schwamm nun ein Stück vor ihm, bemüht, einigermaßen in Ufernähe zu bleiben. In der Mitte war die Strömung stärker und so würde er schon bald an mir vorübertreiben. Das hatte ich nicht bedacht. Fred sah mich mit aufgerissenen Augen an und machte einige stümperhafte Bewegungen auf mich zu.

      „Komm zu mir! Los! Schwimm!“

      Er schlug mit seinen Armen um sich. „Schwimm!!! Wie Papa es und gezeigt hat! Wie ein Frosch!!!“

      Immerhin versuchte er nicht länger, gegen die Strömung anzukämpfen, sondern kam strampelnd und fuchtelnd auf mich zu. Als er sich schließlich an mich klammerte, fiel es mir schwer, meinen Kopf über Wasser zu halten, obwohl es mir gerade einmal bis zum Bauchnabel reichte. Ich stieß mich immer wieder vom Boden ab, schnappte nach Sauerstoff, versuchte Freds allzu festen Griff um meinen Hals zu lösen. Nur sehr langsam näherten wir uns dem Ufer.

      Als wir in der Wiese saßen und uns von der Sonne trocknen ließen und Frederik sein Zittern und Wimmern einigermaßen überwunden hatte, betrachtete er aus nächster Nähe meine geschundenen Füße.

      „Du hast doch gesagt, die Steine werden rund geschliffen vom Wasser“, bemerkte er und schluchzte noch einmal auf. Doch es war bereits ein lästiges Schluchzen, das man nicht mehr los wurde wie einen Schluckauf, und kein echtes Schluchzen mehr. Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten, die lange Schnittwunde mit seiner Fingerspitze zu berühren. Die rote Farbe des Blutes schien eine unwiderstehliche Wirkung auf ihn auszuüben.

      „Wieso waren die Steine also nicht rund, Konrad?“, fuhr er fort und sah mich aus klebrig roten Augen an. Ich erwiderte, den Blick starr gegen Westen, wo die Sonne gerade hinter den Bergen verschwand: „Ich weiß es nicht, Fred. Manchmal ist etwas anders, als es sein sollte.“

      *

      Ich konnte mich in den nächsten Tagen tatsächlich davon überzeugen, dass dieses Gefühl der Gleichgültigkeit meinem Zwillingsbruder gegenüber durch den Schock verursacht worden war. Daran glaubte ich fest. Es war der gleiche hartnäckige Glaube, zu dem ich mich auch bezüglich Gottes Existenz zwang. Doch tief in mir nagte der hässliche Zweifel. Ich war beherrscht wie eh und je gewesen. Sogar ganz besonders beherrscht. Kein Schock weit und breit. Und obwohl ich wusste, dass ich mich dafür hätte hassen müssen, dass ich ihn nicht liebte, hasste ich ihn dafür. Wahrlich hätte ich mir das niemals eingestanden.

      Meine schmerzenden Füße, ich konnte kaum gehen, auch wenn Mutter sie sorgfältig verbunden hatte, erfüllten mich nicht mit Stolz, aber ich nahm sie beinahe dankbar hin als Beweis meiner Bruderliebe und insgeheim auch als gerechte Strafe Gottes.

      Der Sommer zog sich nun, da ich fürs Erste nicht richtig gehen konnte, zäh hin. Wenn man jung ist, vergehen die Tage ohnehin sehr langsam. Ich las viel, manchmal las ich auch Fred vor, der aber schon nach wenigen Seiten mit seinem üblichen Gezappel begann.

      Ich liebte unser Naturkundebuch, eines der wenigen Bücher, die wir besaßen, abgesehen von diesen etwa zwanzig kitschigen Romanen aus dünnem Papier, in die sich meine Mutter jede Nacht fallen ließ. Später würde ich einen Widerspruch in ihrer trockenen Art und dieser Lektüre sehen, dann würde ich aber schließlich begreifen: Im tiefen Inneren sehnte sich Mutter nach Prinzen, Ärzten und Helden jeglicher Art, nach großen Emotionen und auch nach Reichtum und Glanz. Doch all das lag in unerreichbarer Ferne für diese Tochter einer einfachen Krämerfamilie, die sich schließlich, als sie schon zu altern begonnen hatte, mit dem gutmütigen aber einfältigen Sohn eines Bauern abgegeben hatte, dem dritt-geborenem wohlgemerkt.

      Wenn ich nicht las, beziehungsweise die bereits abgegriffenen Seiten betrachtete, denn ihr Anblick allein ließ bereits alle Sätze in mir aufsteigen, so saß ich im Laden auf der Theke und ließ meine bandagierten Füße baumeln.

      „Frau Schultz, diese Schokolade schmeckt ganz hervorragend. Der kleine Matthias wird sie sicherlich lieben. Mein Bruder ist auch ganz verrückt nach ihr.“, „Herr Klee, Ihre Zigaretten haben wir gerade nicht da. Neue kriegen wir erst nächste Woche. Aber ich werde Ihnen in Zukunft welche zurücklegen, ja?“, „Frau Gruber, ich würde die günstigere Seife nehmen. Sie ist besser.“

      „Aber Konrad, du bist viel zu ehrlich. So wirst du nie ein erfolgreicher Geschäftsmann werden!“

      „Ich möchte auch gar kein Geschäftsmann sein. Lieber werde ich einmal Arzt“, erwiderte ich lächelnd.

      „Du bist wirklich ein guter Junge! Ich wünschte, mein Karl wäre auch nur halb so fleißig, wie du es bist. Er treibt sich nur mit deinem Bruder im Wald herum und kommt mit zerrissenen Hosen zurück!“

      Doch Frau Grubers Gesicht quoll über vor Wärme und Stolz. Dann fügte sie noch hinzu: „Er ist eben ein kleiner Rabauke und deinen Bruder steckt er jetzt, wo du hier im Haus sitzen musst, auch noch mit seinen verrückten Ideen an.“

      „Sie bauen da draußen ein Baumhaus“, erklärte ich: „Es wird wunderbar werden, hat Fred gesagt. Ein richtiges Baumhaus!“ Frau Gruber lächelte und zeigte dabei ihre schiefen Zähne. „Na, dann nehme ich die gute Seife. Ich werde sie brauchen.“ Sie drückte mir eine zusätzliche Münze in die Hand und flüsterte: „Wenn du fleißig sparst, kannst du dir ein Modellflugzeug kaufen oder eines dieser kleinen Autos.“ Ich erwiderte lächelnd: „Vielen Dank, Frau Gruber. Ich kaufe mir aber lieber ein neues Buch. Wir haben so wenige Bücher.“

      „Na, dann geh doch Mal in die Bibliothek und leihe dir welche aus. Das ist praktischer und günstiger noch dazu.“

      Ich sah sie fragend an. Die Biblio-Was?

      „Du weißt schon, Konrad: Das Haus gegenüber von der Kirche. Im Erdgeschoss!“ Sie winkte mir zu, als sie aus dem Laden trat und die Glocke ertönen ließ.

      Ich quälte mich also, zwei Krücken zur Seite – Vater hatte sie mir gemacht -, zum Haus gegenüber der Kirche. Vater schnitzte sehr gerne und jeden Abend saß er im Hinterhof und verwandelte ein unförmiges Stück Holz in ein Figürchen – ob Mensch oder Tier - , in ein Türschild, das jemand bestellt hatte, oder eben in Krücken für seinen Sohn. Wahrscheinlich hätte ich Vater lediglich fragen brauchen: „Kannst du mich bitte auf deinem Gepäckträger zur Bibliothek bringen?“, und er hätte in seinem Lied innegehalten und geantwortet: „Steig einfach auf und halte dich gut fest!“

      Dann wäre er mit mir auf seinem rostigen Fahrrad summend durchs Dorf gefahren. Die blaue Farbe wäre bei jedem Treten abgeblättert und wir hätten wohl eine Spur aus kleinen Lackschuppen hinterlassen. Aber ich hatte Vater beim Aussortieren der alten Zeitungen nicht stören wollen und mich also allein auf den Weg zur Bibliothek gemacht. Und so stieg ich nun mühsam die drei Stufen hinauf, die zur Haustür des ziemlich kargen Gebäudes führten. Ich hatte nicht gewusst, dass sich hinter dieser dunklen Holztür die Bibliothek befand, obwohl wir jeden Sonntag an dem Haus vorbeikamen. Aber