E. K. Busch

Einer von Zweien


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dem sonntäglichen Gottesdienst mit den andren Jungen am Ufer der Schlammgrube standen. Fred war beleidigt und überaus zornig.

      „Euer Vater ist ein Idiot“, hatte Karl ohne ersichtlichen Grund bemerkt, so als hätte er etwas über das Wetter gesagt.

      Ich konnte darauf die Wut in Freds Brust schwelen spüren und ich wusste auch, dass jeglicher Beschwichtigungsversuch sinnlos wäre. Trotzdem sah ich zu ihm hinüber und meinte kopfschüttelnd: „Der hat doch keine Ahnung, Fred!“

      Aber mein Bruder hörte mir überhaupt nicht zu. Als er schließlich tobend ins Wasser stieg, die braune Brühe reichte ihm bis zum Bachnabel, da blieb mir nichts anderes übrig, als es ihm gleichzutun. Immerhin waren wir Brüder. Also tauchte auch ich meine Arme in das trübe Wasser und griff nach dem stinkenden Schlamm am Grund. Körnig und doch schleimig fühlte er sich zwischen den Fingern an. Doch ich konnte mich nicht meiner Wut hingeben, wie es Fred vermochte, hörte mein Gewissen zetern bei jedem Wurf.

      Als Karl endlich außer Gefecht gesetzt war, schimpfte ich mich einen Schwachkopf und Schweinehund. Fred dagegen vermochte ich keinerlei Vorwurf zu machen. Es fiel ihm nun einmal schwer, sich zusammenzunehmen. Er war ein ungestümes Kind. Wie Mutter so schön zu sagen pflegte: „Der eine ganz Herz, der andere Kopf.“

      Frederiks polternde Schritte waren auf der alten Holztreppe zu vernehmen und dann schob er sich bereits an dem geblümten Vorhang vorbei, der die Treppe und damit auch das obere Stockwerk vom Laden trennte.

      Dieser Vorhang war im Übrigen das aller schäbigste Ding im ganzen Haus und es sei hier noch am Rande bemerkt: Auch das sonstige Inventar zeugte nicht gerade von einem erlesenen Geschmack. Eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Duschvorhang war jedenfalls unverkennbar. Bei jenem verblichenen Muster handelte es sich vermutlich um ein Blumendekor. In meinem ganzen Leben jedoch habe ich keine Blume von solch scheußlicher Farbe gesehen. Zu solcher Hässlichkeit bedarf es vermutlich der Phantasie eines Menschen.

      Mutter wusch den Vorhang monatlich. Dann klaffte ein ungemütliches Loch in der Wand und es zog unangenehm. Aber auch ihr pedantisches Waschen war vergeblich, so wie all ihr Scheuern, Schrubben, Bürsten. Unzufriedenheit ließ sich nun mal nicht auskehren.

      Fred blieb wie üblich mit einem Fuß im Vorhang hängen und stolperte auf mich zu, der ich da noch immer auf dem kalten Fliesenboden saß. In jeder Hand hielt Fred eine der orangengroßen Glaskugeln und einen Moment fürchtete ich, er würde stürzen.

      Fred war mit Sicherheit einer der ungeschicktesten Menschen, die ich jemals kennengelernt habe. Sein ganzes Leben lang wäre er nicht davor gefeit, über die eignen Füße zu stolpern. Zu meinem Erstaunen aber brachten ihm dieser wie auch seine weiteren augenfälligen Makel nur das Wohlwollen seiner Mitmenschen ein.

      Das Christkind hatte die beiden Schneekugeln gebracht. Genauer gesagt hatte das Christkind für Fred die Kugel mit dem blauen Sockel und für mich die mit dem grünen vorgesehen. Blau war Frederiks Lieblingsfarbe, während Grün die meine war. Der Wahrheit zuliebe möchte ich hier allerdings anführen: Frederiks Lieblingsfarbe war Blau. Und nur deshalb war meine Grün. Denn wie hätten uns die Kunden unterscheiden können, wenn ich nicht immer die grünen und er nicht immer die blauen Strümpfe getragen hätte? Dabei konnte auch dieser kleine Trick mit den Strümpfen uns keine eigenen Identitäten bescheren, denn nicht einmal wollten die Leute sich merken, wer denn nun welche Strümpfe trug. Für die meisten daher waren sowohl er als auch ich Der kleine Wenk, denn dann bräuchte man sich gar nicht zwischen den Namen zu entscheiden. Oder aber man nuschelte etwas wie: Freder-Konrad daher. Diese Respektlosigkeit gegenüber meiner Person, Fred schien es übrigens völlig gleichgültig zu sein, wie man ihn nannte, war zwar frustrierend aber auch ernüchternd. Den Menschen interessierte nur, was ihn selbst betraf.

      Dennoch schmerzte es mich damals, wenn wir Brüder in einen Topf geworfen wurden. Ob Kunden, Nachbarn, Lehrer oder unsere wenigen Verwandten: Niemand schien es für nötig zu halten, einen Unterschied zu machen zwischen diesem Jungen und mir. Da war es dann gleichgültig, dass ich es gewesen war, der die Schranktüre repariert oder die Garage aufgeräumt hatte: Tante Elsa reichte uns beiden eine Tafel Schokolade zum Dank. Dabei störte es mich nicht im Geringsten, wenn man uns einmal verwechselte. Das konnte in Anbetracht der Umstände passieren. Sogar ich selbst verwechselte mich hin und wieder, wenn Fred und ich gemeinsam an einem Fenster vorübergingen und uns in der Scheibe spiegelten. Ein kurzer Blick hinüber und dann der Gedanke: „Wieso trage ich Freds Pullover?“

      Aber ich fand es einfach grauenhaft, wenn man zu ängstlich oder zu bequem war, eine Entscheidung zu wagen. Und überhaupt: War es denn nicht offensichtlich, wer samstags die Straße fegte? Wer mit Mutter in die Apotheke ging oder die Briefe zur Post brachte?

      Noch sollten jedoch Jahre vergehen, bis uns niemand mehr verwechseln würde. Bis dahin würde ich hart kämpfen, um mich von Freds jämmerlicher Mittelmäßigkeit zu befreien.

      Dabei hätten Fred und ich selbstverständlich Namensschilder tragen oder uns die Anfangsbuchstaben unserer Vornamen in großen Lettern auf das Hemd sticken lassen können. Er ein blaues F, ich ein grünes K. Mutter hätte eine solche Arbeit rasch erledigt. Sie war gut im Handarbeiten, nähte und bügelte auch für die Nachbarschaft. Dann saß sie da, die Brille auf der krummen Nase, biss sich auf die Unterlippe, während sie den Faden durch die Nadelöse fädelte. Das ist mir wohl die liebste Erinnerung an sie. Ganz und gar in ihre Arbeit vertieft, sah sie zufrieden aus. Trotzdem wollte ich keinen Buchstaben auf meinem Pullover. Mein verkappter Stolz. Die Leute müssten mich doch irgendwann sehen. Mich. Nicht ihn und erst Recht nicht uns. Nein, ich würde mich nicht etikettieren lassen. War ich denn eine der Dosen in den Regalen? Und noch einmal zu meiner Lieblingsfarbe: Ich hatte keine Lieblingsfarbe. Nie.

      Frederik drückte mir meine Kugel in die Hand und wir begannen kräftig zu schütteln. Die Flocken wirbelten auf und die Figur, ein kitschiger Engel in goldnem Gewand, verschwand im Schneegestöber. Wir schüttelten noch einige Male und nahmen es uns zum Ziel, möglichst viel Schnee auf dem Kopf des Engels aufzutürmen. Das war Frederiks Idee gewesen. Ich selbst hätte nie etwas dergleichen vorgeschlagen, hätte wahrscheinlich einen Hauch Blasphemie in einem solchen Vorhaben entdeckt. Beinahe an jedem Tun ließ sich nämlich etwas Verwerfliches ausmachen, wenn man nur recht genau darüber nachdachte. Damals jedoch schüttelte ich, rhythmisch aus dem Handgelenk, dass die Flocken wirbelten. Es war ja schließlich Freds Idee gewesen.

      Frederik, der bereits von einem weiteren Zappelschub erfasst worden war, schüttelte nun so kräftig, er nur konnte. Hin und her wie völlig wahnsinnig. Die Kugel rutschte ihm aus der Hand. Wir beide beobachteten ihren Weg dem Boden entgegen. Als die Kugel auf die grünen Kacheln traf, zerbarst sie in kleine Splitter. Das Wasser spritze an unseren Beinen hoch. Weiße Flocken schwammen in der erbärmlichen Pfütze zu unseren Füßen. Frederik betrachtete entsetzt den Scherbenhaufen und als er sich hinuntergebeugt und entdeckt hatte, dass die Engelsflügel abgebrochen waren, begann er dann endlich zu weinen. Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen, bis seine Gefühle ihn übermannt hätten. Mutter, die sein Missgeschick durch die Scheibe hindurch beobachtet hatte, betrat nun den Laden. Die Türglocke klingelte und schien den weinenden Jungen zu verhöhnen.

      „Frederik... Lass bloß die Hände von den Scherben! Du zerschneidest dir nur die Finger!“, rief sie und stemmte ihre Arme in die schmale Taille. Wie mager sie doch war!

      „Weshalb musst du denn auch immer so übertreiben?“, und sie verzog den Mund, schüttelte dann langsam den Kopf, dass die Locken sich wanden, wie die Schlangen auf Medusas Haupt. Ihr Blick war streng und vorwurfsvoll. Als Freds Wimmern und seine feuchten Augen sie erweichten, trat sie zu ihm heran, so dass er sich an ihren knochigen, steifen Körper klammern konnte.

      Mutter machte, wurde sie umarmt, einen eigenartig morschen Eindruck. Sie rührte sich dann nicht, stand steif da, als könne ihr auf Grund einer falschen Bewegung der Arm abbrechen.

      Vater kam mit einem Besen und einem Lappen herbei.

      „Sei nicht traurig, Frederik. Es ist doch nur eine Glaskugel.“

      Schon machte er sich daran, den kläglichen Rest des Weihnachtsgeschenks aufzufegen.

      „Vielleicht seid ihr noch zu albern