E. K. Busch

Einer von Zweien


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in dem nur ein Pappschild stand.

      Erdgeschoss: Öffentliche Gemeindebibliothek

      Obergeschoss: Kanzlei Dr. Eichinger

      Dachgeschoss: Privat

      Ich ging auf die Tür gegenüber der Treppe zu und versuchte sie zu öffnen. Verschlossen. Enttäuscht und erschöpft ließ ich mich gegen sie fallen. Alle Mühe also vergebens! Dann bemerkte ich einen Zettel an der Wand. In unleserlicher Schrift, die erst entschlüsselt werden wollte, stand dort geschrieben:

      Wer ein Buch ausleihen möchte, der wende sich bitte an Dr. Eichinger (1. OG)

      Mo – Mi: 9:00 bis 12:00 Uhr

      Ich machte mich also auf den Weg zu Dr. Eichinger, klammerte mich an das abgegriffene Holzgeländer und hangelte mich mühsam aufwärts. Ich klingelte an der Tür und der kleine Mann mit dem lockigen grauen Haar und dem faltigen Gesicht, der mir noch so oft die Tür öffnen sollte, sah mich misstrauisch durch seine Brille an.

      „Du bist aber nicht Herr Tulpe, oder?“, dann blickte er auf seine goldene Armbanduhr und murmelte: „Ohnehin haben wir erst einen Termin in einer halben Stunde ausgemacht.“

      Ich sah den Mann etwas ängstlich an und erklärte: „Guten Morgen, Herr Eichinger“, so wie meine Mutter es mir beigebracht hatte. „Konrad, und dass du die Leute auch immer bei ihrem Namen ansprichst!“

      „Doktor Eichinger“, wandte der Mann ermahnend ein. Ich sah ihn fragend an.

      „Die Titel, mein lieber Junge, darfst du nicht vergessen.“

      „Die Titel?“

      „Nun, den Doktortitel zum Beispiel.“

      „Sind Sie denn Arzt?“

      „Nein, ein Anwalt bin ich. Der einzige in diesem Provinznest.“

      Es folgte ein kurzer Vortrag über die Art seines Berufes und das Studium an der Universität im Allgemeinen und schließlich noch über die Promotion im Besonderen. Ich hörte aufmerksam zu und kam mir sehr dumm dabei vor. Von alledem hatte ich noch nie etwas gehört. Hätte dieser seltsame Mann etwas über den Bussard erzählt oder über die Eidechse, dann hätte ich etwas Kluges erwidern können, aber so konnte ich nur seiner etwas schrillen Stimme lauschen.

      „Ich bin hier, weil unten ein Zettel hängt...“, erklärte ich, als er mich endlich zu Wort kommen ließ.

      „Ach, die Bibliothek. Weshalb hast du das denn nicht gleich gesagt?“

      Nun machte sich ein gelassenerer Ausdruck in seinem Gesicht breit.

      „Ich hole den Schlüssel.“ Damit verschwand er, wie ich später lernen würde, in seiner Anwaltskanzlei. Er half mir, nachdem er meine Krücken bemerkt hatte, die Treppe hinunter und führte mich dann in die seiner Meinung nach überaus bescheidene Gemeindebibliothek ein.

      „Dort hinten findest du Prosa und unsere drei Lyrikbänder. Hier vorne stehen die Sachbücher. Es sind bestimmt zwanzig. Wir sind besonders was die heimische Flora betrifft reich bestückt.“

      Er lachte gackernd. Er schien mir etwas verrückt zu sein, dieser Doktor Eichinger. Doch ich war so fasziniert von den vielen Büchern, dass ich auf den alten Mann nicht weiter achtete, der da etwas gelangweilt neben mir stand. Ich fragte vorsichtig: „Und die darf ich alle lesen?“

      „Du darfst sie sogar mit nach Hause nehmen, mein Junge. Du musst nur gut auf sie acht geben und sie nach einem Monat wieder heil zurückbringen. Für den Fall, dass noch ein zweiter Mensch in diesem Provinznest auf die Idee kommen sollte, ein Buch zu lesen.“

      Ganze zwei Bücher brachte ich heim. Mehr konnte ich in Anbetracht der Krücken nicht transportieren. Es gelang mir gerade, eines auf jeder Seite unter den Arm zu klemmen. Als ich zu Hause ankam, begann ich sogleich mit der Lektüre. Das eine Buch hieß Das Geheimnis der Zahlen und war ein Mathematikbuch, das seine besten Tage bereits hinter sich gebracht hatte. Die Seiten rochen nach altem Käse und ich hielt es daher immer in einiger Entfernung, wollte es schon gar nicht auf mein Kopfkissen legen, wo ich doch gerne auf dem Bauch liegend las. Das andere Buch war ein Märchenbuch mit unheimlichen Zeichnungen. Eigentlich hatte ich ja ein Buch über Gartenkräuter ausleihen wollen, hatte es schon aus dem Regal gezogen. Doch als ich dann das Märchenbuch entdeckt hatte, hatte ich nicht länger an dem Bildungsvorsatz festhalten können. Außerdem: Auch über Märchen hätte ein gebildeter junger Mann Bescheid zu wissen!

      Früher hatte uns Vater oft Märchen vorgelesen, manchmal bis tief in die Nacht. Auch wenn sein Lesen nie besonders flüssig gewesen war, hatte es mir doch immer sehr gefallen. Vater hatte stets mit ganzer Seele gelesen. War eine Geschichte traurig gewesen, und viele Märchen waren im Grunde sehr traurig, hatte er oftmals zu weinen begonnen.

      „Das ist so furchtbar. Das arme Mädchen. Erst verliert es die Mutter und jetzt...“

      Fred und ich hatten dann unsere dünnen Arme um seinen wuchtigen Bauch geschlossen, bis er seine Fassung wiedergefunden hatte und weiterlesen konnte. Eines Tages hatte Mutter jedoch verkündet: „Ihr beide seid jetzt zu alt fürs Vorlesen“, dann hatte sie Frederik streng angesehen und hinzugefügt: „Ihr müsst euch jetzt im eigenen Lesen üben.“

      Nicht, dass Fred daraufhin noch ein Buch ergriffen hätte!

      In den folgenden Monaten, Jahren, würde ich Doktor Eichinger jede Woche besuchen. Wir einigten uns, als die Schule wieder begonnen hatte, auf Mittwochabend. Doch schon bald hatte ich alle Bücher, die es in der Bibliothek gab, gelesen. Als ich also erneut das stinkende Mathematikbuch ausleihen wollte, fragte mich Doktor Eichinger: „Hast du dieses Buch nicht schon einmal ausgeliehen?“

      Der Doktor hatte nämlich ein ganz ausgezeichnetes Gedächtnis; so viele Schwächen er anderweitig auch gehabt haben mochte. Vielleicht war er sogar trotz einiger unübersehbarer Makel, ein recht akzeptabler Mentor.

      Ich sah den alten Mann verlegen an. „Ich habe alle Bücher schon einmal ausgeliehen. Also fange ich wieder von vorne an. Schließlich habe ich vieles schon wieder vergessen oder beim ersten Mal nicht verstanden.“

      Von diesem Abend an ließ mich Doktor Eichinger Bücher aus seiner privaten Sammlung ausleihen, die besser bestückt und etwas sortierter war. Es schien, als hätte ich mir den Zutritt zu seinem Bücherreich erst verdienen müssen.

      Da gab es einige Klassiker der Weltliteratur in seinem Regal, die mich in fremde Zeiten und Welten entführten. Er schätzte die Dramen der alten Griechen.

      „Alles andere nur müder Abklatsch!“

      Shakespeare fand er zu englisch, Goethe zu belehrend, Schiller zu gehaltlos.

      „Aber man muss die alten Schinken zumindest einmal gelesen haben“, pflegte er zu sagen.

      Ein paar Geschichtsbücher besaß er auch. Wieder waren ihm die Griechen und Römer die liebsten, auch vermochte er noch großen Gefallen am Mittelalter zu finden. Man merkte ihm doch eine gewisse Liebe zur „germanischen“ Geschichte an. Friedrich I, Barbarossa also, war ihm besonders lieb. Die neuere Geschichte vermochte ihn dagegen überhaupt nicht zu interessieren. Vermutlich waren die Zeichen der Zeit nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Auch besaß der Mann einige philosophische und naturwissenschaftliche Bücher. Aber vor allem gab es da juristische Fachbücher in seinem verstaubten Bücherregal, deren Titel ich nicht einmal verstand.

      Doktor Eichinger und ich trafen uns wie gehabt mittwochabends, aber nun unterhielten wir uns über das, was ich gelesen hatte, und er versuchte zu erklären, was ich nicht verstand. Nur über die juristischen Bücher wollte er nicht sprechen, nicht einmal lesen durfte ich diese Bücher.

      „Zum einen, mein Junge: Es sind Nachschlagewerke. Sie eignen sich nicht zur Lektüre. Zum anderen: Die Juristerei verfolgt mich bereits den lieben langen Tag. Wenigstens abends will ich verschont bleiben von ihr!“

      Ich akzeptierte diese Regelung bereitwillig, schienen mir die dicken Wälzer doch ohnehin sehr trocken und langweilig. Nicht, dass alle andren Bücher gerade packend gewesen wären!