E. K. Busch

Einer von Zweien


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schrecklich, so dass er sich immer sehr über meine Besuche freute. Zumindest er empfand also Freude.

      Doktor Eichinger half mir beim Verstehen der großen Literatur, brachte mir auch das Mühle- und das Schachspiel bei und weihte mich ein in die Kunst des Sarkasmus und der Ironie. Ich sträubte mich lange diese Wortdrehereien, die mir insgeheim etwas verlogen und hinterhältig vorkamen, zu gebrauchen, obwohl sie mir bald zu jeder Zeit auf der Zunge lagen. Es gelang dem Doktor, mich davon zu überzeugen, dass Diskussionen lehrreich waren und man nicht unbedingt zu einer Einigung gelangen musste, ja dass ein Mensch seine Ansichten manchmal sogar stur gegen allen Widerstand verteidigen musste.

      „Und merke dir, Konrad: Nur wer kritisch denkt, vermag zu erkennen!“

      „Was zu erkennen?“, fragte ich und betrachtete mit schrägem Kopf eine Kopie Dürers Hasen an der ausgeblichenen Wand.

      „Alles, mein Junge. Alles.“

      Nach einigen Jahren jedoch, da war ich wohl fünfzehn, war Doktor Eichingers Freude an meiner Gesellschaft so gut wie dahin. Meine Wissbegierde wurde ihm allmählich lästig und zugleich, doch das wollte er sich nicht eingestehen, gab es auch nicht mehr viel, was er mich hätte lehren können. Viele Bücher, die da in seinem hohen Regal standen, hatte er selbst nie gelesen. Dass er sie dennoch ausstellte wie Trophäen, war möglicherweise heuchlerisch aber mit Sicherheit peinlich. Dies jedoch war nicht der eigentliche Todesstoß unserer Beziehung: Doktor Eichinger konnte meine Frömmigkeit nicht länger ertragen und wir führten einen fortwährenden und unerbitterlichen Glaubenskrieg in dem ich Gott sicherlich ebenso inbrünstig verteidigte wie es der Erzengel Gabriel an meiner statt getan hätte.

      „Du bist ein verdammter Narr!“, rief Doktor Eichinger dann, hatte das Gespräch seinen Höhepunkt erreicht. Der alte Mann tauchte seinen langen Zinken ins Rotweinglas, nahm einen kräftigen Schluck zur Kühlung der überhitzten Gemüter und hustete darauf erbost.

      „Siehst du denn nicht, dass es keinen Gott gibt? Hast du das denn noch immer nicht verstanden?“

      Sein stechender Blick hätte mich sicherlich eingeschüchtert, wäre ich ihn nicht ebenso gewohnt gewesen wie seinen schrillen Tonfall, der oftmals zu ersticken schien vor spröder Trockenheit.

      Ich blieb ruhig. „Doktor Eichinger, ich verstehe durchaus, dass der Mensch auf Gott seine Sehnsüchte projiziert“, bei diesem Wort musste ich immer acht geben, mich nicht zu versprechen: „Ich sehe auch ein, dass viele Menschen den Glauben für ihre Zwecke missbrauchen und dass viel Schlechtes geschieht auf dieser Welt – trotz Gott. Kurz um: Die Theodizee. Aber warum sollte es deshalb keinen Gott geben? Der Mensch ist nun einmal fehlerhaft und erst mit dem Sündenfall ist all das Übel auf die Welt gekommen.“

      „Konrad!!!“

      Der Doktor war nun wirklich zornig.

      „Was sind das für alberne Kindermärchen? Wie kannst du nur so verbissen an einem solchen Humbug festhalten!“

      „Doktor Eichinger, wie können Sie so verbissen an Ihren Zweifeln festhalten?“

      Nun leuchtete die rote Farbe auf seinen pergamenternen Wangen, die er sich im Laufe des Abends so fleißig angetrunken hatte. Er fuhr aufgebracht fort: „Das musst du doch einsehen, Konrad! Bevor etwas als tatsächlich angenommen werden kann, muss es erst einmal bewiesen werden!“

      „Vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus mögen Sie Recht haben. Aber die Frage nach Gott ist keine naturwissenschaftliche Frage; sie spielt sich in einer ganz anderen Dimension ab. Der Glaube braucht keinen Beweis, eben weil er Glaube ist.“

      „Aber Konrad, die Menschen glauben nur, weil sie einen Sinn wollen und einen Gott. Aus Angst nämlich. Aus Angst vor dem Tod.“

      „Man kann nicht glauben, weil man es will. So wenig wir man hofft oder liebt, weil man es will. Der Glaube wird dem Mensch von Gott geschenkt in seiner Gnade und der heilige Geist ist der Bote dazu.“

      Doktor Eichingers Gesicht verwandelte sich in eine schmerzerfüllte Grimasse, dann begoss er seinen Verdruss mit weiterem Wein.

      „Sie sind mir nun doch nicht böse?“, fragte ich ihn vorsichtig: „Immerhin haben Sie mich doch zu widersprechen gelehrt!“, und ich grinste ihn bösartig an. Mit einem bösartigen Grinsen und einer bissigen Bemerkung hatte ich ihn meistens versöhnen können.

      Einen Moment herrschte ernstes Schweigen. Ich starrte auf den hässlichen Hasen an der Wand gegenüber. Nicht, dass Dürers Eichhörnchen mir besser gefallen hätte, davon konnte ich mich bei jedem meiner Besuche überzeugen. Dieses Kunstwerk nämlich hing im Flur.

      „Du bist ein guter Junge, Konrad“, erwiderte der alte Mann schließlich und schüttelte müde den Kopf. Dann nahm er wieder einen Schluck Wein.

      Zögerlich fügte er hinzu: „Ein zu guter Junge vielleicht. Aber du wirst die Wahrheit irgendwann erkennen und dann wirst du endlich befreit sein von diesen albernen Vorstellungen, die sie dir da drüben“, er zeigte mit seinem zittrigen knochigen Finger zum Fenster hinaus auf die Kirche, die in der Dunkelheit des Winterabends nur als Schatten zu erahnen war: „die dir dieser lausige Pfarrer da drüben einimpft.“

      Ich verkniff mir eine Erwiderung, weil ich den Alten nicht weiter reizen wollte. Mit den Jahren waren seine Reden immer aggressiver und herrischer ausgefallen, seine Argumentation war immer absoluter und doch schwächer geworden. Es hatte keinen Zweck, sich mit ihm anzulegen.

      Ob Doktor Eichinger nun bezüglich Gottes Existenz richtig lag oder nicht, zumindest mit einer seiner Aussagen lag er falsch. Ich glaubte nicht, weil der Pfarrer, dieser dickliche, pickelige Mann, der höchstens noch an einen Schweinehirten gemahnte, irgendeinen unlauteren Einfluss auf mich hatte - oder gar meine Eltern, die doch eigenständig noch keinen einzigen Vers der heiligen Schrift gelesen hatten. Ich glaubte, weil ich mir den Glauben selbst mit all meiner Kraft „einimpfte“, wie es der Doktor genannt hatte. Selbst-kasteiend rammte ich mir die Spritze tagtäglich ins Fleisch und verabreichte mir das heilige Serum. Zwar war ich kein Ministrant, wie Fred es war, denn meine knapp bemessene Zeit ließ dies kaum zu und zudem taten die Ministranten mehr Unsinn als Dienst an Gott, aber ich besuchte die Kirche, so oft ich nur konnte. Nicht nur jeden Sonntag, nein oft auch unter der Woche fand man mich im Gotteshaus. Dort kniete ich still vor der heiligen Jungfrau in blauem Gewand, die da ein wissendes Lächeln aufgelegt hatte, und betete ehrfürchtig. Ich war sozusagen ihr größter Fan. Stets zündete ich eine Kerze an und dankte jedem für alles und betete nie für mich selbst. Alle Heiligen in den bunten Fenstern waren sich sicher: Wenn einer einen Platz im Himmel verdient hatte dann der sittsame Junge dort unten zu Füßen der Maria. Petrus hätte mich mit offenen Armen empfangen. Dann hätte er, während er mit dem großen Schlüssel hantierte, beiläufig bemerkt: „Wir warten alle schon so lange auf dich. Er spricht in den höchsten Tönen von dir.“

      Ich hätte selbstverständlich äußerst bescheiden zu Boden geblickt. Dann wären die großen Torflügel aufgeschwungen und unter wunderbaren Sphärenklängen hätte Petrus lächelnd erklärt: „Dann Mal ‘rein in die gute Stube!“

      Vielleicht scheint es hier irrtümlicherweise so, als hätte ich Doktor Eichinger gern gehabt, den alten Mann gut leiden können. Tatsächlich jedoch plagten mich vor jedem Treffen Bauchschmerzen. Sie saßen etwa auf Höhe meines Bauchnabels und standen in Zusammenhang mit einem latenten mittwöchigen Durchfall.

      Diese Stunden in Doktor Eichingers Wohnzimmer waren weit furchterregender als jede Klassenarbeit. Der Alte nämlich stellte mich nicht nur auf die Probe, sondern quälte mich mit Abscheu und mitunter Geschrei, wann immer ihm eine meiner Meinungen nicht passte. Auch fluchte er manchmal, dass ich es kaum ertragen konnte. Zudem war ich durch die bevorstehenden Treffen gezwungen, die bisweilen unerträglich trockenen und unverständlichen Bücher zu lesen, die im besten Fall noch einige Abbildungen enthielten. Von einer Zeichnung quälte man sich dann dankbar über jedes entfallene Wort zur nächsten, wie ein Schiffbrüchiger von einer Sandbank zur anderen ohne doch jemals wirklich trockenen Fußes zu sein.

      Es stellt sich natürlich die Frage, wieso ich mich dennoch auf diese grauslichen Treffen einließ und zudem noch an meinen eignen Meinungen