E. K. Busch

Einer von Zweien


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mehr auf diesen Mist“, und er sah Thomas kopfschüttelnd an.

      Als Fred und ich unten angekommen waren, rief uns Thomas durch die Luke zu: „Ich weiß gar nicht, wer von euch beiden der größere Idiot ist. Habt ihr bestimmt von eurem Vater!“

      Fred wandte sich aufgebracht um und wollte etwas erwidern, aber ihm fehlten die Worte. Obwohl schließlich jeder Konflikt unter uns Jungen damit endete, dass einer etwas gegen unseren Vater sagte, hatte Fred sich noch immer nicht daran gewöhnt. Er reagierte immer auf die gleiche Weise: Unheimlich aufgebracht und doch sprachlos. Dabei hatte er sonst immer die flinkste Zunge von uns allen. Es war also an mir das Wort zu ergreifen.

      „Es kann sich ja jeder sein eigenes Bild von unsrer Intelligenz machen.“

      Immerhin war ich Klassenbester und Fred trotz seiner unsäglichen Faulheit noch immer ein deutlich besserer Schüler als Thomas es war.

      Dann meinte ich mit gesenkter Stimme: „Komm jetzt, Fred. Lass uns einfach nach Hause gehen.“

      Und damit machten wir uns auf den Weg durch das nasse Herbstlaub.

      Ich wollte gerade den Reißverschluss meiner Jacke schließen, das Ding klemmte mal wieder, als hinter uns Geraschel zu hören war. Unerwartet wurde ich nach vorne zu Boden geworfen, fiel auf meinen eignen Arm, dass er schmerzvoll verdreht wurde. Völlig perplex lag ich ihm Laub. Der Geruch von nasser Erde war allgegenwärtig. Ich wurde auf den Rücken gedreht und erkannte Thomas zorniges Gesicht. Ich empfand eher Überraschung als Angst.

      „Du eingebildetes Schwein!“, rief er und dabei landete ein Tropfen Spucke in meinem Gesicht. Ich zuckte angeekelt zusammen.

      Als Thomas es sich auf meiner Brust bequem machte, fiel mir das Atmen schwer. Der Junge war groß und kräftig für sein Alter. Dass er zudem ein Rüpel war, brauche ich wohl nicht mehr zu erwähnen.

      „Hältst dich wohl für einen ganz Schlauen!“

      Er sah mich wütend an, wartete wohl darauf, dass ich mich wehrte, aber ich lag nur da, betrachtete seine bebenden Lippen. Meine Teilnahmslosigkeit irritierte ihn. Thomas schlug mir seine Faust ins Gesicht. Wohl eher um mir eine Reaktion abzugewinnen, als um mich zu verletzen. Nicht, dass der Schlag nicht teuflisch weh getan hätte!, doch der Zorn in seinem Gesicht war einem tiefen Unverständnis gewichen.

      Ich spürte das Blut, das mir immer tiefer in den Schädel sickerte, so wie wenn man beim Tauchen Wasser in die Nase bekommt. Mein ganzer Kopf pochte und mir schwindelte.

      „Bist sogar zu feige, dich zu wehren!“

      Thomas erhob sich.

      Ich flüsterte heiser, das Blut abschluckend: „Falls ich dich gekränkt habe, möchte ich mich dafür entschuldigen.“

      „Du bist doch total irre!“

      Er wandte seinen Blick angewidert von mir, ließ mich einfach im nassen Laub liegen und kehrte dann stapfend zum Baumhaus zurück. Dabei rempelte er noch meinen Bruder an, der starr dastand und die ganze Vorstellung wohl völlig regungslos beobachtet hatte.

      Karl und Robbi hatten dem Geschehen vom Baumhaus aus zugesehen. Ich richtete mich auf und endlich half mir Fred. Noch immer war er völlig verdutzt.

      Auf dem Weg nach Hause bemerkte er dann: „Er hat dich ganz schön erwischt. Was für ein Idiot! Ich hätte etwas tun müssen, dir helfen müssen! Und was mache ich? Stehe nur dumm herum wie ein vollkommener Trottel. - Tut mir leid.“

      „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, und ich schniefte und versuchte mir mit dem Handrücken das Blut aus dem Gesicht zu wischen, verteilte es jedoch nur großflächig.

      „Es war meine eigne Schuld“, setzte ich hinzu: „Ich hätte ihn nicht reizen sollen.“

      „Na, ich hätte ihn wenigstens für dich verhauen können!“

      Ich sah Fred ermahnend an.

      „Na, wenn du dir die Finger nicht schmutzig machen willst... Ich hab‘ damit kein Problem.“

      Er lachte laut auf. Doch wir beide wussten, dass er sich nur ungern prügelte. Wir beide waren viel zu schmächtig für unser Alter.

      Vermutlich hätte ich Thomas von diesem Tag an verabscheuen müssen. Ehrlich gesagt hegte ich aber immer große Bewunderung für diesen Kerl, der sich weder um Regeln noch Gebote scherte. Seine Ursprünglichkeit gefiel mir. Sie hatte etwas Reines.

      Ein wenig erinnerte Thomas mich an die Halbgötter der Griechen, an den jungen Herakles ganz besonders. War dieser denn in seiner Jugend nicht ebenfalls stark, wild und ungezügelt gewesen? Und doch würde er triumphieren. Immer wieder. Über menschenfressende Tiere, blutrünstige Frauen, Riesen und sogar über den Kerberos, den dämonischen Hund, der die Unterwelt bewachte.

      Mir hatte es viel Freude bereitet, die Heldentaten des größten unter den Heroen zu lesen. Unglücklicherweise hatte Doktor Eichinger nicht allzu viel Zeit für eine Besprechung aufgewandt.

      Vielleicht inspiriert durch dieses doch folgenreiche Ereignis, immerhin ließ sich meine gebrochene Nase nicht mehr in den ursprünglichen Zustand zurückversetzen und war von diesem Tag an nicht nur krumm sondern auch bucklig, nahm ich mir zum Ziel, groß und stark zu werden. Meinen Körper hatte ich bisher vernachlässigt, streng hatte ich mich auf die Ertüchtigung meines Geist konzentriert. Und da man das Groß-Werden nicht erzwingen konnte, nahm ich mir erst einmal das Stark-Werden zum Ziel. Natürlich wollte ich kein Ringer werden oder gar ein Boxer. Einer friedlicheren Disziplin würde ich mich zuwenden und so trat ich schließlich der Leichtathletik-Gruppe im Ort bei.

      Selbst bei sengender Hitze konnte man nun diesem schmächtigen Jungen dabei zusehen, wie er sich schwitzend und taumelnd über den Platz quälte. - Ich war ein ganz passabler Läufer. Immerhin der zweitschnellste. Dabei war ich der kleinste im Verein, hatte die kürzesten Beine. Aber auch hier war ich fleißig, sehr fleißig. Schon bald überließ Herr Frank mir den Schlüssel.

      „Du bist ein guter Junge, Konrad. Ich vertraue dir vollkommen!“

      Aber ich war nie der schnellste. Zu kränklich, zu körperfremd.

      „Konrad“, pflegte Herr Frank zu sagen: „Konrad, es zählt nur die Freude. Und du hast doch Freude am Laufen, oder?“

      Er erwartete keine Antwort, sondern fuhr mir auf die Schulter klopfend fort: „Sieh dir den Heinz an. Der läuft wie ein Gott. Aber hat er Freude dabei? Und darum geht es doch. Um die Freude! Und du bist doch ein sehr kluger junger Mann, wirst einmal Arzt werden oder Anwalt. Da reicht es doch, wenn du fit und gesund bist und wenn du Freude hast. Ja, Freude am Sport!“

      Ich hatte keine Freude am Sport. Hatte ich nie. Von Natur aus schon nicht geeignet für körperliche Betätigung. Meine Bewegungen unbeholfen oder, wie Herr Frank quer über den Platz zu schreien pflegte: „Wenk, Konrad Wenk! Du läufst schon wieder, als gehörten deine Beine deiner Großmutter! So steif können deine Gelenke doch noch gar nicht sein!“

      Jeden Abend rannte ich meine Runden. Fieberhaft, bis zur völligen Erschöpfung. Kriechend kam ich in meinem Zimmer an, meist später als Fred, der die Abende zunehmend bei Freunden verbrachte.

      „Mann, Konrad! Was soll’n das? Du übertreibst es völlig mit dem Sport.“

      Er betrachtete mich kopfschüttelnd. Seine Haarfransen wackelten hin und her.

      Er hatte kurz nach unserem fünfzehnten Geburtstag angefangen, sich eine ungepflegte Mähne wachsen zu lassen. Jetzt war sein Haar fast schulterlang. Grauenhaft sah er aus. Aber immerhin war dieser ungepflegte Kerl, der hin und wieder nach kaltem Rauch stank, nicht mit meiner sittsamen Erscheinung zu verwechseln.

      *

      Als mein Bruder Marion mit in den Laden brachte, da war er achtzehn, wusste ich augenblicklich, was er für sie empfand. Ich sah es in seinen Augen, konnte die Wärme spüren, die er in ihrer Nähe empfand. Er liebte dieses Mädchen. Nicht so, wie ich ein Mädchen geliebt hätte, wie ich in all den Büchern darüber gelesen hatte: leidenschaftlich und aus einem Gefühl der Wahrhaftigkeit