Catrina Balis

Löwenschwester


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      ____Prolog____

      Während der Schatten des einzelnen Baumes sich wie eine Decke über sie legt, versucht sie, endlich einen Moment der Ruhe zu finden. Sie blendet alle Laute der Welt um sie herum aus, lässt sich fallen, lässt sich ein auf diesen Augenblick. Entkräftet legt sie ihren Kopf in das trockene Gras, schließt mit Mühe die Augen und ignoriert, dass das seit so langer Zeit nicht mehr möglich ist. Schwach und ausgezehrt rastet ihr unscheinbarer Körper im heißen Wüstensand. Sie gibt für diesen einen Moment die Bereitschaft auf, von jetzt auf gleich auf absolute Geschwindigkeit zu beschleunigen. Schon das winzige Knacken im eigentlich schützenden Gehölz der ausgedörrten Oase hinter ihr lässt sie jedoch aufschrecken und zerstört jeglichen Frieden. Mit einem Satz steht sie abermalig auf den wackligen, dünnen Beinchen, spannt alle Muskeln an und wäre trotzdem nicht schnell genug. Sie kennt die Gefahr, der sie sich aussetzt, wenn sie stehen bleibt. Schon jetzt spürt sie die spitzen Krallen im Rücken, obwohl sie sie bisher nie berührt haben. Wenige Sekunden verstreichen. Trotzdem ein Atemzug zu lang, bis sie realisiert, dass es diesmal ernst ist. Dass er sich heute tatsächlich an sie herangeschlichen hat.

      Urplötzlich sprintet die kleine Antilope los, schlägt die Hufe haltlos in den Sand, peitscht Staub in die Luft. Der ungemütliche Unterton im Knurren ihres Jägers verrät seine Siegessicherheit. Seine Beute hat eigentlich nicht den Hauch einer Chance. Unter ihrer zarten Haut treten Adern hervor, die ihr die Anmut nehmen, weil Todesangst keinerlei Eleganz mehr hat.

      Und ihr Atem geht so schnell, dass ihr schwindlig wird, dass sie blind wird für sämtliche Reize um sie herum. Da ist nur das Fauchen des Löwen an ihrem Ohr, der feuchte Hauch des gierigen Koloss, der ihr selbst die kleinste Hoffnung nimmt. Sie ist ein Fluchttier, aber dass es kein Entkommen gibt, hat sie schon so oft beobachten können. Es ist das ursprüngliche Gesetz von Räuber und Beute, dem sie sich immer bewusst war. Aber niemals zuvor erschien es ihr gegenwärtiger.

      Durch das halbe Land hat sie die Angst vor ihm schon getrieben. An keinem Ort fühlt sie sich zu Hause. Denn jede fahrlässige Minute könnte ihr Ende bedeuten.

      Der Löwe ist die Verfolgungsjagd gewiss noch nicht leid. Ausdauernd steckt er seine komplette Energie in seinen Sprint, genießt den Anblick der blutjungen Gazelle, die zwar noch nicht langsamer, dafür aber immer verausgabter vor ihm flieht. Lange kann dieser Wettkampf nicht mehr dauern.

      Während die heiße Wüstensonne dem Gefecht noch zusätzlich einheizt, werden die schmalen Beine immer träger. Und als sie letztlich einsieht, dass ihr nun das Ende blüht, hat er sie bereits in seiner Gewalt. Quäkend ergibt sie sich der Macht der großen Katze. Das siegreiche Brüllen hallt in ihren Ohren nach, als diese sie mit ihren Klauen packt und ihre verbliebene Zuversicht gänzlich zerfleischt. Es ist das Letzte, das sie zu hören bekommt, bevor die weit aufgerissenen Augen innehalten.

      Schwach durchzuckt die Wirklichkeit ihre Muskeln. Die Sonne ist inzwischen weitergewandert, hat sie aufgedeckt und der Welt zurückgegeben. Angst verschwindet im Nebel des vergangenen Schlafes, wird gleichermaßen erneut entzündet, als sie sich langsam aufrafft und davontrabt. Alles andere als gemächlich. Nach jedem Schritt wirft sie einen Blick zurück, um sich abzusichern, dass ihr Traum, ihre Vision sich auch diesmal nicht realisiert hat. Noch nicht bewahrheitet hat. Es ist kein Gedanke daran, sondern viel mehr ein Gefühl, das sie in ihrem Inneren plagt, sie immer wieder anstachelt und ihre Alarmbereitschaft nie abklingen lässt.

      Die Wildnis ist voll von Löwen, die ihr noch nie begegnet sind, deren Weg sie aber zu jedem Zeitpunkt kreuzen könnte. Bis dahin bleibt sie jedoch die kleine Schwester der Vorahnung.

      ____1____

      Wie ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln tänzele ich auf der Mauer meines Abgrundes entlang. Auch wenn jeder Schritt mit so viel Bedacht gesetzt ist, könnte das hier trotzdem mein Ende sein. Es ist seltsam, wie der Wind meine schwarzen Haare verweht und dafür sorgt, dass ich nichts mehr sehen kann. Es scheint, als wollte er, dass ich die Orientierung verliere, die breite Mauer verfehle und zehn Stockwerken ungehalten herabstürze.

      Ich weiß nicht, ob ich das wirklich will.

      Über mir ist der Himmel eiskalt und die glasblaue Dämmerung hüllt mich ein wie eine raue Decke. Es ist wolkenlos, aber es ist extrem kalt für Oktober. Normalerweise ist der Herbst bei uns noch relativ gemütlich. Unten in der Stadt fällt das wohl keinem auf. Hier oben ist alles anders.

      Ein Schritt und ich bin tot.

      Ich balanciere – in eine dicke Kuscheljacke und einen selbst gestrickten Schal gewickelt – am möglichen Ende meines Lebens entlang.

      Aber kann ich das einfach so? Kann ich mich irgendwann nach vorn fallen lassen und wegfliegen? Ich stelle mir diese Fragen beinahe jeden Tag. Jede Sekunde jedes einzelnen Tages. Die Antwort versteckt sich vor mir. Womöglich gibt es sie überhaupt nicht. Ich weiß nicht, ob ich es könnte, ob ich sterben könnte. Ich weiß nur, dass ich es irgendwann muss.

      Es ist Oktober und ich stehe hier oben und bete. Ich bete, obwohl ich nicht glaube, dass es einen Gott gibt, der mich hört. Wunschtraum. Keine Realität. Nein, Realität nicht.

      Ich bin unberechenbar, habe keine Kontrolle über das, was ich tue und über das, was ich will. Weil ich nicht weiß, was ich will.

      Über all diese Dinge denke ich gleichzeitig nach, während ich nach Antworten suche, nach Auswegen. Ehrlich gesagt liegen sie mir schon seit Jahren direkt vor den Füßen. Und weil ich erkenne, dass ich keine Wahl mehr habe, wenn sie mir erst einmal über die Lippen gegangen sind, drehe ich mich um und steige hastig die Leiter herab. Jage die Treppen herunter, bis ich wieder auf dem schmalen Gehsteig stehe. Ich muss weg vom Abgrund, denn ich will fliehen, solange ich es kann.

      Der Abgrund verfolgt mich.

      Am Fuße des Hochhauses ist es gar nicht mehr windig. Da oben ist einfach alles völlig anders. Es gibt keine Zeit. Auf dem Gehweg. Auf dem Boden der Tatsachen gibt es das Leben und es gibt Helena. Helena, die gegen das Leben kämpft. Vielleicht auch dafür, ich bin mir noch unschlüssig. Das erste Mal, dass ich dort oben gestanden habe, ist bestimmt drei Jahre her. Da war ich dreizehn. Und heute ist mein sechzehnter Geburtstag.

      Es ist der siebte Oktober und niemand hat mir bisher gratuliert. Selbstverständlich gibt es wichtigere Dinge zu erledigen. Ich weiß, dass meine Mom um diese Uhrzeit in der Küche steht und kocht. Ich weiß, dass mein Dad in seiner Kanzlei über einem dringenden Fall brütet und meine Schwester Evelynne seit Stunden im Ballettstudio trainiert. Seit sie vier ist, streben Mom und sie die große Karriere als Primaballerina an. Aber das schafft Evie nicht. Sie ist tatsächlich gut, aber in dieser Branche ist gut nicht gut genug. Dann gibt es noch Tyler, der sich garantiert an meinen Geburtstag erinnert, doch ich kann ihm heute nicht in die Augen sehen. Für uns beide ist es besser, wenn ich ihm heute aus dem Weg gehe. Ich bin also allein an meinem Geburtstag. Es ist nicht so, dass ich traurig bin. Im Laufe der Jahre gewöhnt man sich an eine Vielzahl von Dingen. Gleichgültigkeit zählt dazu.

      Mittlerweile wandele ich wie ein Geist durch den Park. Die Welt wird allmählich von der Nacht eingeholt. Ich träume heimlich vor mich hin. Von einer Torte und Geschenken. Von Familie. Nein ... es ist schon okay.

      »Hey! Vorsicht!« Vor lauter Schreck bleibt mir die Luft weg. Der Knall verhallt noch in meinen Ohren. Wie? Was? Plötzlich sitze ich am Boden, schaue mich verwirrt um. Erst Sekundenbruchteile später realisiere ich die Hand, die nach mir ausgestreckt wird, greife sie und stehe wieder auf den Beinen. Meine Umgebung verwandelt sich in ein unscharfes, sich drehendes Panorama.

      »Ist alles okay?« Die Stimme dringt langsam zu mir vor. Sie klingt neblig. Mein Kopf brummt, meiner Kehle entfleucht ein gequältes Jammern.

      »Geht’s? Du solltest dich setzen.« Zwei Hände packen mich an den Schultern und dann befinde ich mich auf einer Bank. Wo kommt die plötzlich her? Meine Handflächen sind aufgeschürft, doch ich spüre keinen Schmerz.

      »Was ...?« Neben mir sitzt ein junger Mann, den ich nicht kenne.

      »Ich habe dich gar nicht gesehen. Tut mir echt leid. Ich konnte nicht mehr bremsen.« Er lächelt beschämt. Ich kann das Fahrrad ausmachen,