Catrina Balis

Löwenschwester


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hattest gestern Geburtstag. Alles Gute.« Er reicht mir seine Hand. Gedankenlos schüttele ich sie, bevor wir nahtlos zur Mathestunde übergehen. Zahlen sind meine Freunde, auch wenn ich keine Einserschülerin bin. Ich mag Gleichungen und Funktionen und alles, was einen genauen Wert und einen festen Rahmen hat. Zahlen sind nicht relativ, Zahlen sind nicht subjektiv. Zahlen lassen nicht zu, dass irgendetwas Unerwartetes passiert. Sie haben Hand und Fuß und Regeln. Mein Leben hat keine Regeln und ich mag prinzipiell erst einmal alles, was sich von diesem unterscheidet.

      »Stimmt ... ich glaub, ich hab dir bei Facebook gratuliert.« Madison dreht sich kurz um, aber ich mache mir nicht die Mühe, aufzublicken. So geht dieser Schultag schließlich vorbei, hinterlässt eine Spur aus Antriebslosigkeit und Schwermut, die ich auf dem Heimweg hinter mir her schleife.

      Mom empfängt mich mit geschlossenen Armen, als ich zur Tür hereinkomme. Sie ist nicht der Typ Mutter, der seinen Kindern die endlose Zuneigung durch pausenloses Umarmen zeigt. Abgesehen von meiner Schwester natürlich. Man kann Evelynne nicht mit Tyler und mir vergleichen und ihre Beziehung zu Mom deshalb genauso wenig.

      »Auch erst mal Hallo.« Ich will schon wieder verschwinden, mich oben einschließen. Für den Rest meines Lebens, doch das ist wie immer chancenlos.

      »Wir müssen mal reden. Deine Lehrerin hat gestern bei uns angerufen. Warum bist du nicht zur Schule gegangen?« Erwischt, das war’s. Ich hätte wirklich lieber springen sollen. Wenn meiner Mutter die Zügel über irgendetwas aus den Händen rutschen, dreht sich ihre Haltung zu mir um einhundertachtzig Grad. Was vorher als völliges Desinteresse zu beschreiben war, verwandelt sich in blanke Kontrollsucht.

      »Vielleicht habe ich es vergessen«, sage ich trocken. Ich bin eine Schulschwänzerin. Das steht außer Frage. Aber ich komme aus dieser Sache nur wieder raus – und schnell genug heraus -, wenn ich den Spieß umdrehe. Nur so kann ich verhindern, dass sie mir ihre durchaus vernünftigen Argumente vor die Füße wirft.

      »Wie meinst du das?«, will Mom ungläubig wissen.

      »Vielleicht habe ich genauso vergessen, zur Schule zu gehen, wie ihr meinen Geburtstag.« Ein letzter eisiger Blick, dann stehe ich auf, lasse meine Mutter völlig entgeistert im Wohnzimmer sitzen. Eins zu null für mich. Eins zu null für die Gegenseite, weil ich selbst nicht hinter mir stehe. Der Ball prallt an der Glaswand ab, hinterlässt nur einen winzigen Riss, der schneller wieder zuwächst, als dass er sich vergrößern kann. Unglaublich, was ich für ein Talent habe, mich aus der Affäre zu ziehen. Ich habe gelernt, die wenigen Worte, die ich benutze, so anzusetzen, dass ich nicht gezwungen bin, in irgendeiner Art sozial zu sein. Ich bin nicht sozial, bin nicht gern unter Leuten. Leute sind gefährlich, alle gleich. Ich schließe mich da selbst nicht aus.

      Vor meine Zimmertür habe ich meinen Schreibtisch gezerrt. Keiner darf hier rein. Ich bin nicht sicher, kann es in diesem Haus niemals sein. Ist meine Zimmerdecke wirklich so weiß? Das ist mir noch nie wirklich aufgefallen. Ich liege auf meinem Bett, regungslos, ich bin völlig außer Atem, aber ich weiß gar nicht warum. Ich bin eigentlich immer träge. Draußen klopft meine Mutter an die Tür.

      »Helena? Können wir reden?«

      »Nein«, will ich sagen. »Nein, ich rede nicht mit dir. Weil du meine Sprache nicht sprichst. Weil kein Mensch dieser Welt in der Lage ist, meine Sätze zu entschlüsseln. Hinter jedem Wort verbirgt sich nur eine einzige Botschaft. Und weil du die nicht hörst, obwohl sie ein so lauter Schrei ist, rede ich nicht mit dir. Mit niemandem.« Aber ich sage gar nichts. Ich liege nur auf meinem Bett und sehe verlassen nach oben – schwitzend und frierend zugleich.

      So verlasse ich mein Zimmer auch für den Rest des Tages nicht und ziehe mir irgendwann die Decke über den Kopf.

      Dad kommt, ruft meinen Namen. Er entschuldigt sich bei mir. Eve kommt, bringt ihre lächerliche Ausrede an, warum sie mich vergessen hat: zu viel Stress wegen der Vorbereitung für das Casting, das demnächst ansteht. Und als Tyler kommt, schlage ich die Decke zurück, reiße die Nachttischschublade auf, schiebe meinen Ärmel hoch und fange an zu zeichnen. Ich esse heute nichts, ich trinke nichts. Erst als alle schlafen, traue ich mich aus meiner Höhle und verriegele das Badezimmer von innen.

      Es ist Nachmittag. Die Schule habe ich schon überstanden. Aber auch wenn ich im Englischtest der letzten Woche als Klassenbeste abgeschlossen habe, fühle ich mich nicht wirklich besser. Alles ist schwer, zieht sich in die Länge und ich kann das Ende nirgendwo entdecken. Auf dem Dach des alten Wohnhauses lasse ich die Beine über dem Abgrund baumeln. Ich bin so gern hier oben. Hier gehört die Kontrolle m i r a l l e i n. Ich habe mein ganzes Leben selbst in der Hand. Es ist unmöglich, nach Hause zu gehen. Mom und Dad werden nicht da sein. Seit mir heute Mittag der Begriff »Betriebsfeier« durch den Kopf geschossen ist, hören meine Hände nicht auf zu zittern. Ich werde den ganzen Abend allein sein. Mit Evelynne und Tyler. Nein, nur mit Tyler, weil Evelynne sich völlig ihrem Training hingibt. Evie ist der Star der Familie. Tyler ist die Flamme und ich bin die Asche, nahezu von beiden zu gleichen Teilen verbrannt. Dad ist das Wasser, das immer zu spät kommt und Mom ist in den meisten Fällen Spiritus, der alles noch ein wenig aufpeitscht. Mir fehlt die löschende Decke. Warum also springe ich nicht? Was hält mich davon ab, mich freizumachen von all diesen Dingen, die ich nicht beeinflussen kann. Gründe habe ich mehr als einen. Niemand bis auf Tyler würde mich wirklich vermissen. Ich lege mich rücklings auf den kalten Steinboden, winkle meine Beine an. Der Himmel ist blaugrau, sieht irgendwie traurig aus. Es kommt mir beinahe so vor, als würden mich die grau melierten Wolken wie verzweifelte Augen anschauen.

      »Oma«, denke ich. »Wo bist du?« Es gab eine Zeit, da ging es mir noch gut. Da war alles okay. Mit jedem Tag verschwindet diese Erinnerung mehr, wird vertrieben von der Gegenwart.

      Es gibt zu viel, was ich sagen müsste, was ich ans Licht bringen sollte. Irgendwie von meiner Sprache in die andere übersetzen müsste. Ohne Wörterbuch. Ich habe keine Vokabeln gelernt. Prüfung ohne Aussicht auf ein passables Ergebnis. Ich falle durch. Immer wieder.

      Meine Gedanken wandern zu meinem Bruder, der jetzt zu Hause sitzt und wartet, dass ich komme und ihn tröste. Ich bin drei Jahre jünger als er. Theoretisch müsste es umgekehrt sein, denn ich bin doch die kleine Schwester. Er sollte mich beschützen. Schon ganz früh haben wir diese Rollen getauscht.

      Und dann weiß ich, warum ich nicht springe. So sehr ich mich auch selbst davor zu schützen versuche, ich kann diesen Tausch nicht mehr rückgängig machen. Ich kann Tyler nicht hassen. Weil wir unsere eigene Familie sind. Auch wenn ich davon nichts spüren kann, ist es dennoch meine Aufgabe, ihm dabei zu helfen, dass sich seine Welt nicht ebenso verdunkelt. Wir haben diesen Deal niemals ausgemacht, haben niemals geschworen, uns daran zu halten. Er tut es auch nicht, aber er ist in manchen Momenten wie in diesem das Einzige, was mich noch hält.

      Als es dunkel wird, liege ich immer noch auf dem kühlen Beton, fixiere den Himmel und überhöre mein klingelndes Handy. Ich weiß, wer das ist, aber ich reagiere nicht. Nicht jetzt. Es reicht, wenn ich später nach Hause gehe. Ich bin seine Schwester, vielleicht auch seine Seelentrösterin, doch ich habe meine Grenzen und es ist keinem geholfen, wenn ich diese noch weiter überschreite. Gedankenverloren verlasse ich meine kalte Festung, schlendere die Treppen herunter, irre durch den Park. Ich überlege, ob ich zu Oma gehe, aber ich lasse es dann, es ist kalt. Irgendwann setze ich mich in ein Café, bestelle einen Cappuccino nach dem anderen, solange bis mir die grimmige Kellnerin mitteilt, dass Ladenschluss ist. Es ist kurz nach zehn. Wie lange dauert so eine Feier wohl? Wie ich Dad kenne, wird er gekonnt übersehen, wie meine Mutter ihn wortlos auffordert, endlich zu gehen. Sie hasst Betriebsfeiern, weil sie eine schlechte Lügnerin ist und auf die Frage, als was sie denn arbeite, immer mit der ernüchternden Wahrheit antworten muss. Dass sie nur eine Halbtagsstelle in einer Unterwäscheboutique hat. Eigentlich hat sie Design studiert, bewirbt sich fleißig bei zahlreichen Werbeagenturen. Doch bisher ohne Erfolg. Indirekt arbeitet sie sowieso nur als Managerin meiner Schwester und treibt den Plan von der großen Karriere voran. Neben Dad, dem aufstrebenden Anwalt, der bis in die Nacht in seiner Kanzlei bleiben muss, damit er sein Arbeitspensum erreichen kann, wirkt Mom weniger ansehnlich.

      Ungefähr zwei Stunden später tragen mich meine Füße dann doch zu unserem Haus. Das Licht ist aus. Ich muss mich jetzt stellen.