Catrina Balis

Löwenschwester


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tief Luft, die ich nicht sofort wieder ausatme.

      »Passiert dir das öfter?« Ich will mit Ja antworten, aber das Wort geht mir nicht über die Lippen. Stattdessen halte ich mir den Kopf. Das wird bestimmt eine ordentliche Beule. Irgendwann lege ich den Kopf in den Nacken und schaue nach oben. Der Himmel ist blauviolett. Ich mag den Herbst wirklich. Ich mag die bunten Blätter und ich mag Halloween. Ich mag die Luft und den Wind. Die ganze Atmosphäre. Es ist viel zu selten Herbst.

      »Ich bin Damien.« Diese Information kommt aber nicht weit, denn ich kann mich nicht konzentrieren.

      »Helena.« Normalerweise sage ich fremden Leuten meinen Namen nicht. Es kommt selten vor, dass ich neue Bekanntschaften schließe.

      »Dein Fahrrad ist Schrott, oder?«, frage ich vorsichtig. Habe ich genug Geld, um es zu ersetzen?

      »Kein Problem. Ich wohne nicht weit weg von hier.« Trotzdem fühle ich mich schuldig.

      »Ich sollte jetzt aber langsam gehen«, flüstere ich und versuche aufzustehen, schwanke.

      »Soll ich dich begleiten?«, fragt Damien höflich. Doch ich lehne ab. Ich gehe natürlich nicht direkt nach Hause. Er soll nur nicht sehen, wohin mich mein Weg um diese Uhrzeit tatsächlich noch führt. Wir verabschieden uns flüchtig.

      »Vielleicht sieht man sich ja mal wieder, Helena!«, ruft er mir hinterher, als ich schon wieder in meinen Gedanken versunken bin.

      Ich gehe den Weg entlang, Beine und Hände schmerzen. Aber ich gehe weiter. Es gibt weitaus Schlimmeres als Schmerzen. Schmerzen werden völlig überbewertet. Zwang ist zum Beispiel schlimmer. Oder Angst. Oder Todesangst. Wobei Tod schon wieder erträglich wäre. Als ich realisiere, was mir da durch den Kopf geht, weiche ich innerlich noch ein Stück weiter vor mir selbst zurück.

      Am Wegrand fallen mir drei einsame Kornblumen ins Auge, die meine Finger ganz von allein pflücken. Mit Sicherheit hat Oma schon eine Weile keine frischen Blumen mehr bekommen.

      Die Gänsehaut, die mir das Quietschen der Tür über den Rücken gejagt hat, spüre ich immer noch. Jetzt ist es schon fast vollständig dunkel. Erschöpft lege ich mich ins Gras neben den großen, schwarzen Stein. Eigentlich mag ich weder Dunkelheit noch Nacht noch Kälte, aber heute lassen sich alle drei Dinge einfach nicht vermeiden.

      »Hallo«, flüstere ich. »Ich hab dir Blumen mitgebracht.« Ich schlucke die Tränen herunter, die meine Fassade durchbrechen wollen, weil Oma nicht antworten kann. Weil sie mir nicht zum Geburtstag gratulieren kann und sie mich allein gelassen hat. Ich bin ihr keinesfalls böse, bin nur traurig. Es ist okay, dass alle meinen Geburtstag vergessen, aber es ist absolut nicht okay, dass so liebe Menschen wie Oma einfach aus ihrem Leben gerissen werden. Oma hat mich immer aufgefangen. Seit sie weg ist, falle ich. Und ich falle und ich falle. Es ist zwecklos, vor dem Abgrund zu fliehen. Ich bin doch mittendrin!

      Keiner hört mich, als ich zu Hause durch die Tür schleiche und in mein Zimmer verschwinde. Keiner darf mich sehen. Ich setze mich auf mein Bett und schaue die Tür an, weiß gar nicht, ob ich sie abgeschlossen habe. Ein Zittern durchjagt meinen Körper vor Kälte. Ich habe lange im Gras gelegen. Jetzt ist es schon nach zehn. Morgen ist ein ganz normaler Schultag. Zumindest sollte ich da hingehen. Gerade, weil ich heute schon nicht dort war, sondern den Tag auf dem Dach verbracht habe. Kurz denke ich darüber nach, wie ich eigentlich auf die Idee gekommen bin, dort oben auf der Mauer entlangzulaufen. Es ist ein ganz gewöhnliches Wohnhaus mit vielleicht zehn Stockwerken. Es gibt sogar einen Fahrstuhl, aber der ist schon defekt, seit ich das Gebäude kenne. Die Wohnungen in den letzten drei Etagen sind nicht bewohnt, weil niemand so viele Treppen steigen will. Ich glaube, ich habe irgendwann einfach gedacht, dass man bestimmt auf das Dach kommt. Und es war tatsächlich so. Der Rest hat sich ergeben.

      Zehn Minuten später stehe ich vor dem Kleiderschrank. Ich muss Duschen. Auch wenn ich heute besonders ungern mein Zimmer verlasse, weil ich den anderen Menschen, die hier wohnen, nicht wirklich gern begegne. Doch was bleibt mir anderes übrig, als dieses Risiko einzugehen. Ich kann mich nicht permanent hier verstecken. Also schnappe ich meine Sachen und laufe so schnell und so vorsichtig, wie ich kann, den Flur entlang. Ich habe es fast geschafft, als ich hinter mir eine Tür aufgehen höre.

      »Hellie, warte mal!« Ich will Tylers Stimme heute bitte nicht hören, verschwinde hektisch im Badezimmer und schließe die Tür ab. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Sonst bin ich immer für ihn da, doch dafür habe ich in diesem Moment wirklich keine Energie. Vielleicht ... will er mir auch nur mein Geschenk überreichen, mich herzlich in den Arm nehmen und mir gratulieren. Vielleicht ist er ja heute mein ganz normaler großer Bruder. Fürsorglich und pflichtbewusst. Als ich in den Spiegel schaue, muss ich tatsächlich über mich selbst lachen.

      Ich koche mich selbst unter dem heißen Wasser. Das ist sie einzige Strategie, die verhindert, dass ich zu schmerzhafteren Mitteln greife. Auch diesmal mildert es den Druck, der sich in mir schon den ganzen Tag über aufgebaut hat. Zumindest so lange, bis mein Blick doch auf die vielen Linien trifft. Fast alle verheilt. Bis auf fünf. Ich habe es ja versucht, aber manchmal hilft es mir auch nicht, mir brühendes Wasser über den Rücken laufen zu lassen, wenn meine Seele Blut sehen will. Mit diesem Gedanken flüchte ich in mein Zimmer und schließe die Tür hinter mir sorgfältig ab. Ich fühle mich nicht sicher. Nirgendwo in diesem Haus. Noch nicht einmal, wenn ich allein bin. Doch ich muss damit zurechtkommen, weil ich mich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag kochen kann.

      Meine innere Unruhe lässt mich auch in dieser Nacht nicht tief schlafen. Ich muss immer wieder daran denken, dass ich hier nicht zur Ruhe kommen kann. Ich bin ein Fluchttier, eine Antilope, die stets und ständig auf der Hut sein muss.

      Als mein Wecker losschellt, schlage ich die Augen auf und stelle fest, dass ich eigentlich schon lange wach bin.

      »Ich habe dich gestern gar nicht nach Hause kommen hören«, stellt meine Mutter fest, als ich zum Frühstück in die Küche komme. Sie hat immer noch gar nichts dazu gesagt, dass ich gestern sechzehn Jahre alt geworden bin. Sie haben es tatsächlich alle vergessen. Nicht, dass ich daran irgendwelche Zweifel gehabt hätte, aber ein wenig Hoffnung hatte ich schon.

      »Hellie, kannst du nächstes Mal bitte erst ins Wohnzimmer kommen und uns sagen, dass du da bist, bevor du dich in deinem Zimmer einschließt?« In Dads Stimme liegt ein grantiger Unterton, den ich gekonnt ausblende. Er ist eigentlich nicht wirklich sauer, sondern nur immer noch verwirrt, dass ich mein Zimmer so verbarrikadiere. Wenn überhaupt bin ich es, die verärgert sein dürfte – nur ich! Das weiß meine Familie aber nicht, weil sie vergessen haben, dass ich da bin, obwohl ich direkt neben ihnen sitze.

      »Helena, wenn du heute Nachmittag aus der Schule kommst, müssen wir uns mal unterhalten«, erklärt Mom. Unterhalten. Warum? Warum große Worte wechseln, wenn sie der nonverbalen Komponente eh widersprechen werden?

      »Okay«, sage ich nur. »Worum geht’s?«

      »Das besprechen wir dann.« Hoffnung keimt in mir auf. Es ist ein absonderlicher, kleiner Wunsch, der sich sowieso nicht erfüllen wird. Der aber ausreicht, dass mich meine Beine wenig später zur Schule tragen.

      Ich habe nicht viele Freunde oder Leute, die sich mit mir sehen lassen. Ich bin die Unbekannte mit den schwarzen Haaren aus der letzten Bankreihe, mit der kaum einer ein Wort wechselt. Eigentlich nehme ich mich nicht bewusst aus den Gesprächen heraus. Aber es spricht keiner mit mir und deshalb habe ich es auch nicht nötig, den Mund aufzumachen. Die Einzige, die bemerkt, dass ich heute überhaupt zum Unterricht erscheine, ist Madison Roland, die auf dem Platz vor mir sitzt.

      »Helena! Du bist ja wieder da. Warst du krank?« Ich mag ihre flötende Stimme nicht, obwohl Madison eigentlich wirklich nett ist. Ich bin eine Antilope. Der Gedanke ist plötzlich wieder da, sodass ich nicht antworten kann. Ich bin ein Fluchttier. Ich habe gelernt, mit offenen Augen zu schlafen. Nirgendwo bin ich in Sicherheit. Ich unterdrücke das Bild in meinem Kopf genauso wie den Reflex, aufzustehen und das Klassenzimmer zu verlassen.

      »Helena ...« Ohne dass ich sie bemerkt habe, steht mein Lehrer Mr. Owland plötzlich neben mir.

      »Ja?« Ich zwinge mich, ihm in die