Catrina Balis

Löwenschwester


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ich bin nicht bereit, allein irgendwo zu übernachten. Worauf zur Hölle habe ich mich da nur eingelassen!

      Suzan bemerkt meine Gedankengänge nicht. Wie denn bitte? Ich kann nichts besser, als mich verstecken und abblocken. Und auf Hochhäusern sitzen, ohne zu wissen, auf welchem Weg ich wieder unten ankomme. Wo soll ich mich diese Nacht nur verstecken? Die Wahrheit einschließen? Ich weiß es nicht. Immerhin habe ich wenigstens frei, wenn ich schon nicht frei sein kann.

      »Hellie?«, fragt Suzan. »Alles gut?« Verwirrt nicke ich nur. Wie kommt sie darauf, dass etwas nicht stimmen könnte? In nächsten Moment begreife ich, dass ich unvermittelt vor der Haustür stehengeblieben bin und mich nicht mehr von der Stelle bewege.

      »Entschuldige. Ich war in Gedanken.« Sie schließt die Tür hinter uns ab. Mein Herz schlägt bis zum Hals.

      »Du musst doch jetzt gar nicht fliehen.«, denke ich. »Du bist doch in Sicherheit.«

      »Komm erst mal ins Wohnzimmer.« Die Wohnung ist klein aber fein. Das eine Fensterbrett steht voller weißer Orchideen, die allesamt um die Wette blühen. Als Suzan meinen skeptischen Blick bemerkt, lacht sie laut auf.

      »Ich züchte sie. Ja, schon klar, ich bin ein Freak.« Sie wirft ihre kleine Persönlichkeit auf das große, cremefarbene Sofa. »Mensch, Hellie! Setz dich!«

      Und wieder bleibt mir nichts anderes übrig, als mich bei ihr zu entschuldigen.

      »Ich mache das nicht oft.« Wir lachen. Über meine unbeholfene Art. Suzan tut mir gut, das merke ich. Ich will ich selbst sein. Wo ist der Schlüssel zu meiner Seele? Warum ist die Tasche so groß, in der ich ihn versenkt habe. Oder der See im Park? Oder war es der Pazifische Ozean? Als Suzie aufsteht und mir Schlafsachen sucht, kommt für einen Augenblick Panik in mir auf. Wegen eines Gedankens an die Zeichnungen auf meinen Unterarmen, auf den Beinen. Aber bevor ich etwas sagen kann, ist das Oberteil, das sie mir reicht, langärmlich und alles ist in Ordnung. Alles ist in Ordnung, auch wenn eigentlich nichts gut ist.

      Wirklich lange unterhalten wir uns schließlich aber doch nicht mehr. Es ist inzwischen auch gleich fünf Uhr morgens. Und als ich dann im Bett liege, schlafe ich sofort. Das hätte ich niemals gedacht, dass gerade ich es schaffe, in einer fremden Wohnung zu entspannen. Aber kaum habe ich die Decke bis zum Kinn gezogen, fallen mir die Augen zu, und ich kann es zulassen. Ich bin weg von zu Hause. In diesem Moment gibt es keinen sichereren Ort für mich auf dieser Welt.

      Ich schlafe lange, habe eine Menge nachzuholen. Als ich aufwache und auf mein Handy schaue, ist es fast fünfzehn Uhr. Zehn Stunden sind verstrichen und es geht mir gut. Ich bin fit, bin bereit für den Tag, der fast schon wieder zu Ende ist. Ich habe das erste Mal nichts geträumt. Es war eine lange, friedliche Nacht ohne Hammer, Tyler und Angst. Ohne ständiges Aufwachen oder Wachliegen. Ich bin erholt. Ich bin ich selbst. Genau so lange, bis ich meine Nachrichten lese.

      ____2____

      Nein, es geht mir nicht gut, ich bin nicht erholt, muss so schnell es geht von hier verschwinden. Was soll Suzan denn von mir denken, wenn sie mich so sieht? Beinahe mechanisch und von dem Gedanken getrieben, meine neu gewonnene Freundin nicht augenblicklich wieder zu vergraulen, ziehe ich mein Kleid wieder an, meine Jacke darüber, mache das Bett ganz säuberlich und lege Suzies Sachen sorgfältig zusammen. Ich kippe das Fenster an, damit meine verbrauchte Luft und somit auch der Rest von mir aus diesem Zimmer verschwinden. Dann schleiche ich in den Flur, schnappe meine Schuhe, schließe die Tür so leise es geht hinter mir und laufe einfach los. Ich fliehe. Aus der Sicherheit zurück in die Abhängigkeit. Ich bin eine Antilope, habe vergessen, mit offenen Augen zu schlafen, weil das auf Dauer einfach zu viel Kraft kostet. Weil das auf Dauer kein Leben ist. Niemand schafft es, so etwas ewig zu ertragen.

      Ich flüchte zu Oma.

      Die Kornblumen welken, ich werfe sie einfach in den nächstbesten Busch.

      »Oma ...«, fange ich an – zittrig, hilflos. »Verdammt, Oma!« Ich lege mich ins Gras, es ist kalt. Mir ist kalt. Als hätte man mich erschlagen, bewege ich mich nicht und starre gebannt den schwarzen Grabstein an, während ich aufgebe, stark zu sein. Innerlich versuche ich verzweifelt, die rostigen Gitterstäbe meines Gefängnisses auseinanderzubiegen. Meine Gedanken trommeln mit Fäusten auf den blechernen Boden dieses Käfigs, hinterlassen jedoch noch nicht einmal Dellen. Wann hört das auf? Wann gibt er mich endlich frei?

      »Oma, hilf mir!«, flüstere ich dann. »Oma, warum kann ich nicht einfach mal einen schönen Abend haben?« Ich zittere am ganzen Körper, bin jedoch nicht in der Lage, aufzustehen. Gelähmt, ohnmächtig. Aber ich bin nicht bewusstlos.

      Wir sind eine Familie, Tyler und ich. Wenn ich ihn verlasse, bringe ich ihn damit um. Das hat er mir mehrmals ganz genau so gesagt und mit der Zeit glaubt man sogar daran. So gern ich mich einfach umdrehen und aus dieser Welt verschwinden möchte, so sehr rüttelt die Verantwortung an mir. Ich bleibe.

      Ich bleibe, aber ich stehe wieder auf.

      Mein Kleid ist dreckig, ich bin völlig durchgefroren, aber ich stehe wieder auf. Nur das zählt.

      Und dann mache ich mich im Dunkeln auf den Nachhauseweg. Soll er doch einfach! Soll er doch tun, was er tun muss, um nicht völlig seine Nerven zu verlieren. Als hätte ich eine Wahl. Ich brauche doch gar nicht erst zu versuchen, mich zu wehren. Er ist zwei Köpfe größer, wesentlich kräftiger als ich. Das war er schon immer. Als hätte ich nur den Hauch einer Chance. Ich kann am Ende doch nur zulassen, dass er immer wieder alle Narben aufkratzt. Und das macht er gern, denn das ist seine Strategie, am Leben zu bleiben. Ich bin seine unfreiwillige Untergebene. Vielleicht lasse ich mich unterdrücken, aber letztendlich helfe ich damit, eine ganze Reihe von schlimmeren Dingen zu verhindern. Wenn man das schon als Kind beigebracht bekommt, gewöhnt man sich daran. Es dauert eine Weile, doch auf eine morbide Art gewöhnt man sich daran. Ich ergebe mich.

      Die Welt ist so gefährlich. Wir erleben Dinge, die wir nicht vermeiden können, die wir nicht vergessen können. Sie sind uns so tief ins Fleisch geschnitten, dass wir ein Leben lang verzweifelt versuchen, die Blutung zu stillen. Aber es gelingt uns niemals. Diese Art Schnitt heilt nicht. Vielleicht zeichne ich deshalb so gern. Ich sitze auf meinem Bett und drücke das Taschentuch auf meinen Arm. Die Tür zu meinem Zimmer ist wie immer verbarrikadiert. Tyler hat mich vorhin nur mit einem drohenden Blick angesehen, obwohl ich sogar bereit gewesen wäre, meine Pflicht zu erfüllen. Mom und Dad sind im Haus und deshalb bleiben wir lieber für uns allein. Jedoch sind sie nur noch so lange da, bis sie zu Bett gehen.

      Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell man die Zeit anhalten kann. Mit so einem bisschen Blut. Mit so einem bisschen Schmerz ... und Freiheit. Suzan hat mir zwei Nachrichten geschrieben und ich habe mit aller Überzeugungskraft erklärt, dass meine Mom mich gebraucht hat und ich deshalb so schnell verschwunden war. Nicht, dass ich kurz vorm Zusammenbruch stand, weil mein Bruder die Verbindung zwischen uns aufgewickelt hat, mich ohne vorher zu fragen an sich herangezerrt hat. Emotional. Ausnahmsweise. Suzie will sich bald wieder mit mir treffen, weil wir unsere Freundschaft ausbauen sollten. Ihr würde wirklich viel daran liegen. Ehrlich gesagt, mir auch. Ich weiß nur noch nicht, ob ich das kann.

      »Hell? Isst du mit uns?« Es klopft an meine Tür. Dad. Nicht Tyler. Auch wenn ich das kurz denke und mein Herz schon wieder so schnell rasen will, dass es stehen bleibt. Für. Eine. Sekunde. Warum nennt er mich Hell? Aus Angst, dass er vielleicht doch die Tür durchbrechen könnte, verstecke ich mein höllisches Geheimnis wieder in meiner Nachttischschublade und lasse alle Anzeichen dafür verschwinden, auf welche Art ich mich in den letzten Minuten befreit habe.

      Natürlich setze ich mich meinem Bruder gegenüber und ertrage seinen Blick, der mich im Nacken packt und in die Knie zwingt. Selbstverständlich beantworte ich Moms Fragen, die sie nur stellt, weil das in ihrem Drehbuch als Mutter nun mal so festgelegt ist. So vernünftig es wäre, genau das zu tun, ich lehne ab.

      »Kommst du wenigstens mit runter?« In Dads Stimme schwingt ein enttäuschter Unterton mit.

      »Ich muss noch Hausaufgaben machen.« erfinde ich. Notlüge. Nur so habe ich genug Zeit, um meine Maske wieder völlig gerade zu