Laura Feder

Die Kinder Paxias


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in einer Stresssituation besonnen zu handeln, kennengelernt hatte, verwarf Saya diesen Gedanken. Gleichzeitig war sie taktvoll genug, das Kernthema behutsam anzusprechen.

      „Kannst du über das Geschehene reden?“

      Cassia nickte, suchte aber Kaelis Hand, die sie ihr nicht verwehrte.

      „Es hat ein großes Feuer gegeben.“ Ihre Worte klangen belegt und rau, und sie räusperte sich mühsam. „Unser Haus ist verbrannt, uns war nichts mehr geblieben.“

      „Ein Brand?“ Entsetzen kroch in Arn hervor, Übelkeit … Er war erstaunt, dass sie nicht vor ihm zurückgewichen war. Cassia wandte sich ihm kurz zu, ihre dunklen Augen verharrten in der Beobachtung der zuckenden Flammen in seinen Pupillen, aber es schien sie nicht abzustoßen. Vielmehr wirkte sie abgelenkt in der Faszination ihrer Betrachtung.

      Ihre nächsten Ausführungen erklärten ihre mangelnde Ablehnung.

      „Ein Blitzschlag. Die ständigen Unwetter hatten bereits den Stall und unsere Ernte zerstört. Das Boot meines Vaters ist bei einem Orkan aus seiner Vertäuung gelöst und aufs Meer getragen worden. Und schließlich hatten wir auch unsere Bleibe verloren.

      Meine Eltern entschlossen sich zur Flucht auf diese Seite Paxias.

      Unser Schiff war das letzte verbliebene, welches zwischen den Kontinenten pendelte. Dies sollte seine letzte Fahrt werden, da die Wetterbedingungen nicht länger vorhersehbar waren.

      Unsere neue Heimat war bereits in Sicht, als der Sturm begann.

      Binnen Momenten bildeten sich schwarze Wolken, sammelten sich über uns, als wären wir das Ziel. Wellen erhoben sich – wir hatten keine Aussicht, diesen Kampf zu gewinnen.

      Als der Regen einsetzte, flutete er das Deck – es war zu rutschig, um darauf zu laufen. Die Rettungsboote liefen voll und krachten aus ihren Befestigungen – zerschellten am Bug des Schiffes.

      Die ersten Wellen schlugen über uns zusammen, rissen viele in die Fluten.

      Mich eingeschlossen.

      Ich weiß kaum, wie es mir gelungen ist, an die Wasser­oberfläche zu gelangen, die ganze Zeit schien es, als zerre es mich zurück in die Tiefe.

      Aus der Entfernung beobachtete ich, wie das Schiff auseinanderbrach – es war ohrenbetäubend.

      Es gelang mir, an ein großes Stück Treibholz zu kommen, an dem ich mich festklammerte.

      Dann war plötzlich alles still.

      Mir kam alles wie ein böser Traum vor: Ich trieb schaukelnd im Wasser, es war völlig windstill. Wäre der Schaum an der Oberfläche überall nicht gewesen, ich hätte geglaubt, einfach nur aufwachen zu müssen und alles wäre gut.

      In der Ruhe hörte ich schließlich das jämmerliche Schreien des kleinen Kerlchens hier. Wie durch ein Wunder hielt er sich strampelnd über Wasser. Ich nahm ihn an mich, und kurze Zeit später hörte ich das Rufen der Männer dieses Dorfes. Sie kamen, um Überlebende zu bergen.

      Viele gab es nicht.“ Cassia sah in die schweigend lauschende Runde, in die mitfühlenden und betroffenen Mienen der Gefährten, schlug dann die Augen zu dem Baby in ihrem Arm nieder.

      „Er ist zur Waise geworden – ebenso wie ich.“

      Ihre letzten Worte waren kaum zu verstehen, dennoch blickten Saya und Kaeli sich in nachdenklicher Sorge an.

      Maya und Cedric – die beiden Paxianer kamen ihnen sofort in den Sinn.

      Es gab niemanden, der geeigneter war, sich um die verlassenen Kinder zu kümmern. Sie würden es tun, da waren sich beide sicher.

      Doch sie lebten auf Paxias anderer Seite, abseits der Brennenden Berge – unweit Cassias ursprünglicher Heimat. Sie würden die Kinder unmöglich auf gleichem Weg zurückschicken können. Weder schien es ein weiteres Schiff zu geben, welches diese Fahrt noch wagen würde, noch konnten sie so kurz nach dem erlebten Grauen von Cassia verlangen, wieder an Bord zu gehen und das Wagnis einer Fahrt auf sich zu nehmen, welche nicht weniger gefährlich war und ebenso schrecklich enden konnte. Leider war die Wahrscheinlichkeit eines Schiffbruchs durch die launische Willkür des Meeres sehr hoch.

      Was immer die Ursache für die anhaltenden Katastrophen war – sie schienen zielgerichtet auf Chaosverbreitung und Unglück, und Saya war immer überzeugter, dass es einen Feind geben musste.

      Diese Häufung von Kontrollverlust, gefolgt von Tod, Trauer und Leid, konnte einfach nichts sein, was Paxias Hände über sie aussähten.

      Es war grausam.

      Und Grausamkeit war nichts, was die Natur Paxias ihnen gab.

      Dies alles durfte nicht in ihrer Absicht liegen.

      Darauf vertraute Saya.

      Aber nun galt es, eine Lösung für Cassia und den kleinen Jungen zu finden.

      Da auch der Weg durch die Brennenden Berge keine Option barg, mussten sie sich etwas anderes einfallen lassen.

      „Gibt es jemanden, der Anspruch auf dich oder deinen kleinen Gefährten erhebt?“ Kaeli stellte diese Frage zögernd, ihre Gedanken hatten einen ähnlichen Verlauf erfahren.

      „Du willst wissen, ob es einen Ort gibt, zu dem wir nun gehen können?“ Cassia formulierte die vorsichtige Andeutung der Freundin direkter. Sie verstand das Dilemma der Gefährten, plötzlich mit der Verantwortung für zwei paxianische Kinder konfrontiert zu werden – mochte sie auch noch so freiwillig übernommen worden sein.

      Auf Kaelis Nicken antwortete sie ehrlich, aber spürbar bemüht, ihnen die Last ihrer Gegenwart nicht aufzubürden. Und das, obwohl deutlich war, dass sie sich bei ihnen sicherer fühlte als in dem unbekannten Fischerdorf, welches ihre Eltern ihnen als neue Heimat bestimmt hatten.

      „Ich habe keine Verwandten – nirgendwo. Meine Eltern waren bereits verwaist, als sie sich kennenlernten. Unsere kleine Familie war alles was existierte.

      Und von dem kleinen Jungen hier weiß ich weder den Namen noch zu wem er gehörte. Ich sah ihn im Wasser das erste Mal.

      Allerdings gab es auch keinen im Dorf, der sich seiner angenommen hatte. Alle gingen wohl davon aus, dass er mein Bruder wäre. Und das ist es, was er von heute an sein wird.

      Ich glaube aber, dass wir im Dorf bleiben können. Sicher werden wir von einer Familie aufgenommen, wenn ich um Hilfe bitte.“

      Warum Cassia dies noch nicht getan hatte, war allen klar.

      Ihr Selbsterhaltungstrieb, der sie vor Schaden bewahren sollte, hatte es ihr instinktiv unmöglich gemacht.

      Wie könnte sie es auch ertragen, jeden Tag aufs Neue an den tragischen Verlust ihrer Eltern erinnert zu werden? Sei es, indem sie aufs Meer sah und bei jeder hohen Welle ihren eigenen Überlebenskampf neu erlebte, oder indem sie auf den Strand blickte, der die letzte Ruhestätte ihrer toten Eltern sein würde, und immer wieder ihre leblosen, starren Gesichter sehen würde.

      Cassia sollte trauern – sie würde diese Phase brauchen, um Vergangenes zu verarbeiten und ihren Schicksalsschlag hinter sich zu lassen. Aber es musste eine gesunde Form der Trauer sein.

      Im Augenblick war sie am Ende ihrer Kräfte. Ihr Körper und Geist hatten einen Nothalt eingelegt, der ihr Fassung und bewundernswerte Klarheit gab.

      Doch es würde andere Zeiten geben.

      Zeiten, in denen sie unbeschreibliche und unkontrollierbare Wut spüren würde, Traurigkeit, überwältigende Sehnsucht, grenzenlose Einsamkeit und viel – sehr viel Verzweiflung.

      In diesen Zeiten sollte sie Abstand haben von diesem Ort und dem Meer. Die Konfrontation mit ihren eigenen Emotionen würde ausreichend an ihren Kräfte zehren – die Belastung, ständig diesen Küstenabschnitt mitsamt des Dorfes vor Augen zu haben, sollte nicht dazugehören müssen.

      Außerdem würde Cassia einen Halt brauchen, eine oder mehrere Bezugspersonen, denen sie vertraute und mit denen sie ihr Leid teilte.

      „Maya