Laura Feder

Die Kinder Paxias


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      Zuerst verspürten sie ein leises Vibrieren unter ihren Füßen, gefolgt von einem leise ächzenden Knarren und Knirschen, als ob irgendwo sehr viel Spannung ausgeübt wurde.

      Das Meer rechts und links von ihnen waberte vor dem flachen Ufer.

      „Was geschieht hier?“ Unsicher sah Kaeli zu ihren Gefährten, deren Wachsamkeit ebenso geweckt war.

      „Ein Erdbeben?“, schlug Cecil vor, wirkte aber wenig überzeugt.

      Arns Aufmerksamkeit galt dem Verbotenen Wald. „Ein Empfang? Es ist uns nicht erlaubt, hier zu sein. Vielleicht sind wir schon zu nahe und dies ist die erste Warnung, Abstand zu bewahren.“

      Saya hatte mit zunehmendem Beben den Boden im Auge behalten. Sie sah den ersten feinen Riss entstehen.

      Und handelte instinktiv.

      „Vergesst den Abstand – lauft!“ Mit einem kräftigen Stoß zwang sie Cecil und Arn in Bewegung und folgte ihnen, Kaelis Hand packend. Zu irritiert zum Widerspruch, gehorchten die Männer blind.

      Es war eine weise Reaktion.

      Krachend entstand eine tiefe Erdspalte, wo zuvor Sayas Fuß den kaum wahrnehmbaren Riss berührt hatte. Die gewaltige Erschütterung raubte ihnen das Gleichgewicht, unsanft stürzten sie zu Boden.

      Arn kämpfte sich mühsam in eine halb sitzende Position, die Erde bebte unverändert, der Lärm brechender Landmassen war ohrenbetäubend. Er versuchte den Zustand der Gefährten zu erkennen.

      „Jemand verletzt?“, rief er gegen die Wucht des wütenden Elementes. Staub verhinderte klare Sicht.

      „Keine Zeit!“ Mit Entsetzen beobachtete Saya, wie sich Risse netzartig unter ihnen ausbreiteten, überall war Sand in Bewegung, rieselte in neu gefundene Tiefen.

      Rauschend füllte das Meer den großen Spalt, verschlang weitere Stücke brüchigen Landes.

      Es näherte sich ihnen mit unaufhaltsamer, bedrohlicher Macht. Als Saya sich auf die Beine rappelte, trat sie mit einem Fuß ins Leere. Geistesgegenwärtig brachte sie ihr Gleichgewicht auf die andere Seite. Doch sie landete auf wankendem Grund, der ihrem Gewicht nicht gewachsen war. Durchzogen von unzähligen Mikrorissen, gab er unter ihr nach.

      Saya sprang.

      Arn packte ihren Arm und zerrte sie zu sich.

      Saya machte sich nicht die Mühe, den Absturz des Erdbrockens zu verfolgen, dessen Schicksal in den Tiefen des Meeres sein Ende finden würde. Eindringlich blickte sie Arn in die Augen.

      „Wir müssen fliehen!“

      „Ich für meinen Teil habe nicht vor, jetzt eine Diskussion zu beginnen“, war seine erstaunlich trockene Entgegnung, mit der er ihre Hand ergriff und losrannte. Gemeinsam nahmen sie die Verfolgung Cecils und Kaelis auf, die bereits bei Sayas ersten Worten den Kampf nach vorn begonnen hatten und einigen Vorsprung besaßen.

      Kaeli versuchte immer wieder, sich suchend nach ihnen umzusehen.

      „Blick nach vorn, Meermädchen!“, schrie Saya sie an, als diese dabei ins Stolpern geriet. Die unkontrollierten Erschütterungen machten ihnen die Fortbewegung schwer genug. Hinter sich hörten sie das Klatschen nahender Wassermassen, das dumpfe Brechen abtrennender Erde, und unter sich spürten sie immer wieder weichenden Boden. Der entschlossenen Verbindung ihrer Hände, ihrem geteilten Gleichgewicht war es zu danken, dass keiner endgültig zu Fall kam.

      Dann – ganz plötzlich – Stillstand.

      Es war zu abrupt für die Gefährten. Saya und Arn hatten gerade Cecil und Kaeli erreicht, als die unerwartete Regungslosigkeit des Bodens einsetzte.

      Es war ihnen unmöglich, Balance und Schwung so unvermittelt in Einklang zu bringen.

      Ein wirres Knäuel aus aufeinanderprallenden Körpern kam schwungvoll zu Fall.

      Arn schob mit schmerzvoll verzogenem Gesicht einen spitzen Ellbogen von seiner Kehle.

      „Jemand verletzt?“, wiederholte er mit rauer Stimme seine Frage.

      Mehrstimmiges leises Stöhnen blieb die einzige Antwort. Alle bemühten sich, den Knoten unterschiedlicher Arme und Beine zu entwirren und die Herrschaft über selbige zurückzugewinnen.

      Schließlich kauerten sie schwer atmend und erschöpft nebeneinander auf dem Boden und starrten fassungslos auf die klaffende Lücke, die einmal Landbrücke gewesen war. Das Wasser in dieser war schaumbedeckt und aufgewühlt, aber nicht mehr außer Kontrolle. In kurzer Zeit würde niemand mehr vermuten, dass die Kontinente an dieser Stelle einst verbunden gewesen waren.

      „Ist es vorbei?“, wagte Kaeli zu fragen. Ihr zierlicher Körper zitterte vor Anstrengung und innerer Erregung. Wieder einmal hatte sie die Gewalt ihres Elementes ertragen und erleben müssen.

      „Es sieht so aus“, murmelte Cecil. Er hatte seine Arme fest um die Knie geschlungen und wirkte, als benötigte er dringend Zeit, dieses Geschehen einzuordnen und zu verarbeiten. Auch er konnte die Schauer, die ihn krampfartig schüttelten, nicht vollständig zurückdrängen.

      „Es ist dieser Kontinent.“ Sayas Kriegerinstinkt hatte als Erstes eine Analyse der herrschenden Lage gefordert. „Er hat sich verschoben.“

      Erstaunt über diese Feststellung folgten die anderen ihrem Blick, der auf die gegenüberliegende Seite der ehemaligen Meerenge gerichtet war.

      Es war eigentlich eine kurze Strecke gewesen, die sie hätten zurücklegen müssen, um über die versunkene Enge zum Verbotenen Wald zu gelangen. Aber nun war das andere Ufer kaum mehr zu erkennen, es blieb schemenhaft – eine verschwommene Kontur.

      „Ich begreife das nicht. Wie kann das alles möglich sein?“

      Niemand reagierte auf Kaelis unbewusst ausgesprochenes Entsetzen.

      In Arn kreisten die Gedanken über verbliebene Optionen, wie sie die Verbindungslosigkeit überbrücken könnten. Weder schwimmen noch fliegen waren zu gegebener Zeit möglich.

      Er erreichte die gleiche Schlussfolgerung wie vor der Trennung der Landmassen.

      „Ich denke immer noch, jemand wollte uns dem Wald fernhalten.“

      „Glaubst du wirklich, Paxia wäre bereit, uns solcher Gefahr auszusetzen?“ Saya reagierte ungläubig.

      „Nein, Paxia nicht … vielleicht aber hast du von Anfang an richtig vermutet, und es gibt eine weitere Macht.

      Eine, die nicht Paxias Einfluss untersteht. Eine, die uns und dieser Welt feindlich gesinnt ist und die sich durch unseren Eintritt in den Wald gestört fühlen würde.“ Arns Argumentation war in seiner einfachen Logik nicht von der Hand zu weisen. Saya musste ihm innerlich Recht geben. Sie erhob sich langsam.

      „Dann sollten wir mit der Störung beginnen.“

      Arn folgte ihr. Er sah ein weiteres Mal auf die entfernten Umrisse, das trennende Meer und wandte sich dann um, die ausladenden Stämme und dichten Büsche des Verbotenen Waldes nur wenige Schritte entfernt betrachtend.

      In seinen Augen flackerte es humorvoll. „Eine Umkehr jedenfalls ist ist keine Option.“

      Kaeli klopfte sich den Sandstaub von den Stiefeln und sah die anderen erwartungsvoll an – voller Spannung den sagenumwobenen Ort zu betreten. „Dann lasst uns gehen.“

      Keiner widersprach, waren sie doch alle von ähnlichen Empfindungen getrieben.

      Nur Arn bewegte sich sehr zögernd vorwärts, auch noch, während Saya hinter ihm ihn entschlossen – und erschreckend kraftvoll – durch das dichte, aber glücklicherweise feine Blattwerk drängte, welches bei jeder Bewegung kitzelnd seine Haut streifte.

      Er fühlte sich unwohl in dem Bewusstsein, einen heiligen Ort zu betreten, dessen Hüter ihn aufgrund seiner Herkunft als natürlichen Feind ansehen würden. Hätte eine Alternative existiert, wäre er niemals mit der entwürdigenden Absicht zu dieser Stätte gekommen, ihr seine entweihende Anwesenheit aufzuzwingen.