Matthias Hahn

Cristos' Himmelfahrt


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die Prüfung zu bestehen, er hatte sich bei den unzähligen Tests zumindest in seinen Wahlfächern immer im oberen Viertel seines Jahrgangs wiedergefunden, doch hier ging es nicht ums Bestehen. Die Note war entscheidend. Nur die Besten konnten auf einen wirklich lukrativen Job hoffen.

      Als hätte der Direktor Cristos’ letzten Gedanken gelesen, nahm er sich des Themas an.

      „Achtundzwanzig Absolventen werden nun ihr Berufsleben antreten, und das mit den besten Voraussetzungen, sei es als Wirtschaftswissenschaftler, als Juristen, als Verwaltungsfachkräfte oder als Brain-Ingenieure. Zwölf werden von Heaven Corp übernommen, aber auch für die anderen sehe ich keinerlei Probleme, eine überdurchschnittlich dotierte Stelle bei einem angesehenen Arbeitgeber zu finden.“

      Wieder großer Beifall. Zwölf Übernahmen. Das hörte sich doch nun wirklich ganz gut an, überlegte Cristos. Ob er sich auch unter diesen Glücklichen befand? Vielleicht sogar mit einer Stelle in der Firmenzentrale in Elevator City?

      „Ich komme nun zur Verteilung der Zeugnisse. Jannick Küppers, bitte treten Sie vor.“

      Der Angesprochene folgte der Aufforderung ohne Verzögerung.

      „Herr Küppers, Sie haben respektable 862 Punkte erreicht. Ich gratuliere.“

      Mit diesen Worten überreichte der Direktor einen dokumentenechten Stick, der all die gesammelten Schulnoten, Aufsätze und Arbeiten des Schülers enthielt, und von jedem potentiellen Arbeitgeber in eine handelsübliche Datenstation eingelesen werden konnte.

      „862 Punkte? Das ist aber nicht gerade viel“, murmelte Carlita.

      „Wahrscheinlich werden die Zeugnisse nach der erreichten Punktzahl verteilt, von unten nach oben“, flüsterte Cristos.

      „Dann war Jannick der Schlechteste?“

      „Ich hoffe es. Für uns, meine ich.“

      „Ihm geschieht es ganz recht.“

      „Carlita Thompson“, ertönte die Stimme des Direktors.

      Und die arme Carlita war demnach die Zweitschlechteste, dachte Cristos, während sie nach vorn ging. Das war nicht gut, aber auch nicht wirklich dramatisch, denn Carlita hatte im Gegensatz zu ihm bereits eine halbwegs sichere Stelle in Aussicht. Und umso bereitwilliger würde sie sich später von ihm trösten lassen. Aber wann kam er an die Reihe?

      Ein Schüler nach dem anderen wurde aufgerufen und holte sich Zeugnisstick, Applaus und wachsendes Lob des Schulleiters ab. Cristos’ Theorie schien sich zu bewahrheiten, die Punktzahl der Absolventen stieg tatsächlich von Aufruf zu Aufruf, und entsprechend wuchs auch Cristos’ innere Erregung. Bald wartete nur noch ein knappes Dutzend – die Übernahme winkte –, dann acht, dann vier, drei, zwei, einer, und schließlich stand kein einziger Schüler mehr vor ihm. Cristos konnte es nicht fassen. Das konnte nur eins bedeuten: Er war von allen hier … Unglaublich!

      Der Schulleiter klappte seine Mappe mit den Notizen zu und machte Anstalten, das Rednerpult zu verlassen, dann fiel sein Blick auf Cristos.

      „Oh, da habe ich doch tatsächlich jemanden vergessen“, sagte er und klappte die Mappe wieder auf. „Wo ist er nur …“, murmelte er angestrengt suchend, „… wo … Haben Sie die Prüfung überhaupt bestanden? – Ah, da stehen Sie ja. Cristos Mandrakos, kommen Sie zu mir!“

      Cristos folgte der Aufforderung mit leichtem Zögern. Sein Hochgefühl hatte einem flauen Kribbeln unter dem Zwerchfell Platz gemacht. Ganz leise konnte er seine Kommilitonen tuscheln hören. So mancher würde ihm einen Dämpfer durchaus gönnen. Für ihn und seine Mutter käme es einer Katastrophe gleich.

      „Mein lieber Cristos Mandrakos“, begann der Direktor mit derart ernster Miene, dass sie Cristos zu einem hörbaren Schlucken veranlasste. „Leider fehlen Ihnen genau zwei Punk-te …“ – Cristos vernahm ein leises Lachen aus den Reihen der Schüler – „… zwei lächerliche Punkte …“ – die Miene des Schulleiters verwandelte sich in ein breites Grinsen – „… und Sie wären als der beste Absolvent seit Gründung dieser Anstalt in die Annalen eingegangen. So sind Sie leider nur der zweitbeste, aber trösten Sie sich: Die Einzige, die jemals besser war, war niemand anderes als Ruthlene Handsome, und aus dieser meiner Schülerin ist schließlich auch etwas geworden.“

      Cristos hörte kaum den kräftigen Applaus vor lauter Glück.

      „Und auch Ihnen prophezeie ich eine glückliche Karriere bei Heaven Corp, ganz wie bei der großen Ruthlene Handsome. Sie haben schon eine Stelle gefunden?“

      „Nein, Herr Direktor, ich …“

      „Das trifft sich gut, Herr Mandrakos, denn Heaven Corp macht Ihnen ein außerordentlich gut dotiertes Angebot als … äh … Programmierer des Big Brain, der zentralen Computer­einheit des Himmels.“

      „Das … das …“

      „Meine herzlichen Glückwünsche!“

      Dieses Mal war der Applaus nicht an Lautstärke zu überbieten. Eine Stelle als Big-Brain-Programmierer, das war der im Grunde genommen unerreichbare Traum aller jungen Computerexperten. Normalerweise wurde dort nur alle zwanzig Jahre ein Platz frei. Das bedeutete ein gutes Leben, Reisen in die Tropen, eine anspruchsvolle, aber nicht überfordernde Tätigkeit zusammen mit den besten Programmierern der Welt. Ganz abgesehen von den Aufstiegsmöglichkeiten. Und das Beste: Da Wartung und Aktualisierung der Software Big Brains aus Sicherheitsgründen stets an Ort und Stelle erfolgen mussten, durfte Cristos immer wieder in den Himmel hinauffahren, ein Privileg, das nur ganz wenigen vor dem Erreichen des sechzigsten Lebensjahres gestattet war. Alles war ganz wunderbar – und dabei hatte er gerade eben noch Todesängste ausgestanden – völlig umsonst. Ob es Ruthlene Handsome damals genauso ergangen war?

      „Wann kann ich anfangen?“, erkundigte sich Cristos, als die Jubelrufe verklungen waren.

      „Moment, ich schaue nach“, sagte der Direktor, „ah, da steht es ja. Übermorgen. Sie werden mit einer Linienmaschine zur Zentrale der Heaven Corp nach Elevator City reisen, und von dort aus geht es direkt in den Himmel.“

      *

      „Na, ist das Leben nicht wunderbar?“, erkundigte sich Rolf Bauer, der etwa fünfundfünfzig Jahre alte Leiter des städtischen Polizeidienstes. Er wies auf die Palmen, die den künstlichen Fluss säumten, unweit der „Biergarten“ genannten Freiluftlokalität, in der er und Emma sich einen Platz ergattert hatten, um über den Acht-Skelette-Fall zu sprechen. Das Gewässer, ihr Gesprächspartner bezeichnete es als „Mee“ oder so ähnlich, erstreckte sich über die Länge von zwei Kilometern in dem Wadi, das Würzburg von Süd nach Nord durchzog. Der Fluss wurde von einer geschwungenen, auf Mittelalter getrimmten Plastikbrücke überspannt, darauf standen angeblich echte mehrere Meter hohe Heiligenfiguren, jede in einer anderen Farbe. Einen Kilometer nördlich dieses Bauwerks endete das Gewässer, dort leiteten mächtige unterirdische Pumpen und gewaltige Rohre das Wasser an seinen Ausgangspunkt zurück, sodass eine stetige leichte Strömung die Illusion eines echten Flusses verstärkte. Nur eine der zahllosen verschwenderischen Touristenattraktionen, die diese Wüstenstadt angeblich so attraktiv machten.

      Emma fragte sich, wie viele Liter Wasser hier ungenutzt verdunsteten, während die Bewohner der umgebenden Slums

      in den heißen Sommern regelmäßig an Mangelerscheinungen litten, die durch die Knappheit des teuren lebenspendenden Nass hervorgerufen wurden. Nun, das war nicht ihr Bier. Sie war hier, um einen Fall zu lösen und eine saftige Prämie zu kassieren.

      „Zwei Silvaner bitte“, rief Rolf Bauer einer dunkelhäutigen Bedienung zu, die die Bestellung mit freundlichem Lächeln quittierte. Sie stammte sicher aus den Elendsvierteln rund um die Stadt, vermutete Emma angesichts der rauen, nicht ganz reinen Haut der Service-Kraft unter ihrem grellbunten Dienstkittel. Aber immerhin war sie keine Holographie, wie Emma es von den meisten Hamburger Kneipen her kannte. Für die zahlungskräftigen Touristen, die die Stadt mit ihren prall gefüllten Geldbeuteln beglückten, trieb man in dieser Stadt doch einiges an Aufwand. Na ja, dafür langten sie aber auch kräftig zu, die Getränkepreise waren nicht gerade geeignet, die Laune