Matthias Hahn

Cristos' Himmelfahrt


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bringen“, hatte er sich beschwert. „Das müssen irgendwelche Zugereisten gewesen sein. Ausländer. Bestimmt eine dieser Extremistengruppen aus Indien oder Afrika. Hier tut keiner keinem was. Alles in bester Ordnung, das können Sie mir glauben. Ich arbeite schon seit achtzehn Jahren bei der Würzburger Polizei, ich weiß das.“

      „Was ist mit den Slums?“, erkundigte sie sich.

      „Was soll mit denen sein?“, blaffte Bauer zurück.

      „Wohnen da nur Engel?“

      „Unsere Stadt ist sicher. Wie Sie bestimmt schon bemerkt haben, verläuft ein doppelter Elektrozaun rund um die Stadt, entlang der sogenannten Bischofsmütze, der ehemaligen Stadtmauer, um die Bürger und Besucher vor dem Abschaum zu schützen, der rundherum in den Elendsvierteln haust. Der Zaun wird 24 Stunden am Tag bewacht, dafür sorge ich höchstpersönlich. Seit über zwei Jahren ist kein Urlauber mehr Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.“

      „Aber arbeiten nicht viele von den Slumbewohnern innerhalb des Zauns? Unsere Bedienung zum Beispiel?“

      „Sicherlich. Sie können gutes Geld verdienen und sich und ihre Familien ernähren. Aber nach der Arbeit müssen sie wieder in ihre Viertel zurück, da achten wir sehr darauf. Sehen Sie …“, Bauer zeigte auf zwei Uniformierte mit Laserpistolen, „jeder Platz, an dem sich Auswärtige aufhalten, wird bewacht. Seit ich die Verantwortung übernommen habe, ist diese Stadt absolut sicher. Deswegen sind wir ja auch bei unseren Besuchern so beliebt.“

      … so dass sie sich gern ausnehmen lassen, hätte Emma am liebsten ergänzt, als sie einen Blick auf die Speise-und-Getränke-Karte warf, aber sie beherrschte sich.

      „Was wissen Sie über Ruthlene Handsome?“, wechselte sie das Thema.

      „Ruthlene wer?“

      „Ruthlene Handsome. Hohes Tier bei Eugene Worthy.

      Den Namen haben Sie doch hoffentlich schon mal gehört.“

      „Sie meinen den Schöpfer?“

      „Genau den.“

      „Wieso wollen Sie das wissen?“

      „Ruthlene Handsome war eines der Opfer, die man in den Dünen gefunden hat.“

      „Und? Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass Ihr Fall nichts mit uns zu tun hat.“

      „War sie hier? Hier in Würzburg? Sie führen doch sicher eine Liste über alle Besucher dieser … wunderschönen Stadt.“

      „Sie können die Liste gern einsehen, wenn Sie mir eine richterliche Anordnung vorweisen.“

      „Sehr freundlich von Ihnen. Sie könnten mir die Liste aber auch sofort übermitteln, ohne den ganzen Behördenkram. Es handelt sich immerhin um achtfachen Mord.“

      „Der nichts mit uns zu tun hat. Und außerdem: Ich bezweifle, dass Sie etwas Brauchbares finden würden. Wir löschen die Daten ordnungsgemäß nach sechs Monaten.“

      „Nach sechs Monaten?“, wiederholte Emma ungläubig.

      „Wir haben hier in dieser Stadt eine Ausnahmegenehmigung durchgesetzt. Den Besuchern zuliebe. Schließlich soll Würzburg ja Spaß machen. Wir löschen alles. Außer natürlich, eine Person ist verdächtig oder stammt aus einem der Viertel rund um die Stadt.“

      Emma sank seufzend in ihren Stuhl zurück. Die Bedienung kam herbei und stellte grinsend zwei Kelche mit einer leicht trüben gelblichen Flüssigkeit auf den Tisch. Bauer nahm das Glas in die Hand und führte es zur Nase. Die Kommissarin tat es ihm nach und schnupperte. Der Geruch erinnerte sie irgendwie an Urin.

      „Und falls Ihre Ruthlene Handsome wirklich hier in Würzburg war“, ergänzte ihr Gegenüber, „was soll sie hier schon gemacht haben? Frankenwein getrunken, was sonst. Vielleicht hat sie ja sogar ein paar Flaschen für den Schöpfer eingekauft. Prost!“

      Er nahm einen Schluck aus dem Glas. Emma nippte höflich an der Flüssigkeit und verzog das Gesicht. Das Zeug schmeckte genauso, wie es roch.

      „Das soll der Schöpfer trinken? Diese Pisse?“

      „Nein, nicht diese … Pisse.“

      Emma betrachtete ihren Gesprächspartner. Er schien über die Herabwertung des hiesigen Nationalgetränks nicht böse zu sein, verzog vielmehr amüsiert die Mundwinkel. Plötzlich wusste sie, wie sie ihn knacken konnte. Demonstrativ schüttete sie den Inhalt ihres Glases auf den Boden.

      „Entschuldigen Sie“, erklärte sie, „aber ich kann mich mit diesem alkoholfreien Zeugs einfach nicht anfreunden. Nicht, seit ich einmal einen echten Wein getrunken habe.“

      Es war ein nicht ganz ungefährliches Thema. Seit mehreren Jahrzehnten stand Alkoholgenuss unter Strafe. Doch ausgestorben war er beileibe nicht, sondern hatte im Gegenteil dem illegalen Handel mit Rauschmitteln einen neuen, großen Schub beschert.

      Doch Emma hatte ihren Würzburger Kollegen richtig eingeschätzt.

      „Sie?“, stammelte Bauer. „Sie trinken echten Wein?“ Er betrachtete sie mit völlig neuen Augen.

      „Seit meiner Jugend. Der einzige Luxus, den ich kenne. Zumindest beinahe der einzige.“ Wie beiläufig öffnete sie einen Knopf ihrer Bluse. „Heiß ist es hier. – Aber Sie sind echtem Wein doch ebenfalls nicht abgeneigt, wenn ich Ihren Gesichtsausdruck richtig interpretiere.“

      „Was für Weine trinken Sie denn?“, erkundigte sich Bauer in gedämpftem Tonfall.

      „Nun, meist französischen, ab und zu auch einen Italiener.“

      „Sonst nichts?“

      Vorsichtig schüttelte sie den Kopf. Vielleicht hätte sie sich vor dem Gespräch besser über Weinanbaugebiete informieren sollen. Doch ihr Gesprächspartner hakte nicht weiter nach, sondern setzte ein breites Lächeln auf.

      „Das heißt, Sie haben noch nie in Ihrem Leben echten Frankenwein getrunken?“

      Wieder schüttelte Emma den Kopf.

      „Dann sollten Sie diese Erfahrung aber schleunigst nachholen.“

      „Aber wie?“ Sie setzte ihren unschuldigsten Blick auf. „Könnten Sie mir dabei unter Umständen behilflich sein?“

      Bauer schaute sich in alle Richtungen um, als wollte er sich vergewissern, dass auch wirklich keiner zuhörte. Dann legte er seine Hand auf ihren Arm. „Vielleicht sollten wir unsere Unterhaltung in einer intimeren Umgebung fortsetzen, sagen wir mal, bei mir zu Hause. Mal sehen, was sich dort im Keller so alles findet.“

      Emma fasste wie zufällig nach Bauers Hand und blickte ihm tief in die Augen.

      „Ich kann’s kaum erwarten“, hauchte sie.

      *

      Nachdem Cristos und seine Kommilitonen die offiziellen Feierlichkeiten hinter sich gebracht sowie fünf weitere Lieder und ein Schlussgebet zu Ehren des großen Wohltäters Eugene Worthy abgesungen und aufgesagt hatten, versammelten sich alle in einem der gehobenen Restaurants Oslos zu einer „zwanglosen“ Runde bei Flüssighacksteak, echtem pürierten Brokkoli, Wein und Bier – natürlich alkoholfrei – und einem undefinierbaren Dessert, das wie eine Mischung aus Vanilleeis und Erdbeerpudding aussah, aber entfernt nach Preiselbeeren schmeckte. Die Bestellungen wurden von vorzüglich programmierten holographischen Kellnern entgegengenommen und von zuverlässigen Roboterwagen an die richtigen Tische ausgeliefert, aber das Angenehmste war: Das Restaurant war absolut frei von Werbeholographien, nur Worthys überdimensionales Antlitz schwebte lächelnd über den Köpfen der Feiernden, den heutigen Gästen zu Ehren.

      Cristos durfte als Jahrgangsbester die zweifelhafte Auszeichnung genießen, sich zusammen mit seiner Mutter an den gleichen Tisch zu setzen, an dem auch der Schulleiter und seine Ehegattin Platz genommen hatten. Sehnsüchtig warf Cristos einen kurzen Blick zu Carlita am anderen Ende des Raums. Sie plauderte angeregt mit den beiden Jungs, die links und rechts von ihr saßen, dem dicken Sven und dem doofen Olli. Keine ernsthafte