Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101 nebst seiner Vorgeschichte


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Zeit fast alles, was ich in Schottland angehäuft hatte. Ich war einer der Trottel, die von den Profis ausgenommen werden. Richtig gute Zocker spielen nicht mit den Karten, sondern mit dem Gegner.“

      Danach lernte er das Spiel ein zweites Mal. Er begriff, dass man beim Pokern nicht mit dem Kopf durch die Wand gehen durfte, sondern nach den offenen Türen suchen musste. Er lernte, seine Gegner zu lesen, an ihren Gesten zu erkennen, ob sie ein gutes Blatt hatten oder es nur vortäuschten. Im Alter von einundzwanzig Jahren gewann er sein erstes großes Turnier und verlor den Gewinn in der folgenden Nacht wieder, weil er sich mit Alkohol zuschüttete und trotzdem zum Spaß mit ein paar Freunden spielte.

      „Seitdem rühre ich keinen Alkohol mehr an“, sagte er zu Solveig und hielt die Wärmekanne hoch.

      „Was ist das für ein Buch, das du beständig mit dir herumträgst?“ hatte sie gefragt, ohne auf das Thema Alkoholsucht einzugehen.

      „Ein uralter Roman. Krieg und Frieden. Ein Roman aus Russland. Wenn mir danach ist, schlage ich irgendeine Seite auf und lese fünf oder zehn Seiten weiter. Der Roman ist so verwickelt und umfasst so viele Personen, dass es völlig gleichgültig ist, wo man einsetzt.“

      Dani Graves war einer der Favoriten des Turniers in Mumbai, bei dem ein Spieler nur zwei Karten erhielt und sie mit fünf Karten, die der Croupier nach und nach offen auf den Tisch legte, kombinieren konnte. Vor der ersten Karte, nach der dritten, vierten und fünften konnte jeder Spieler so viel setzen, wie er wollte. Wer das beste Blatt besaß, gewann. Nach einer Minute waren die meisten Partien entschieden. Graves und Brauweiler gehörten zu einer Schar von etwa zweihundert Spielern, die durch die Welt zogen und die großen Turniere abklapperten: Im Winter spielten sie in Indien und Australien, im Sommer in Nordamerika.

      „Mein erstes großes Turnier in Mumbai war ein offenes Turnier“, erzählte Solveig ihrer Großtante, „ich musste mich in Vorkämpfen qualifizieren, um zugelassen zu werden. Als ich nach der Hälfte des Turniers soviel gewonnen hatte, dass ich davon ein Jahr leben konnte, stieg ich aus. Das Geld, das ich brauchte, um unabhängig leben zu können, verdiente ich mir später mit Golfspielen. Dazu hatte mir übrigens ein Pokerspieler in Mumbai geraten, der sich zwischen den Turnieren mit Golf fit hielt. Manchmal bin ich später noch zu Pokerturnieren gegangen, aber mehr um das Verhalten der Spieler zu beobachten, als um zu gewinnen.“

      Einer der Spieler, dessen Gesicht Solveig in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, war aufgestanden und hatte ihr ein Angebot gemacht: „Wenn du keine Jetons mehr hast, kann ich dir welche geben. Aber ich verlange eine Gegenleistung.“

      Bei diesen Worten waren zahlreiche Lampen angegangen, und Solveig sah, dass sie sich in einem Spielkasino befand. Alle Spieler an den anderen Tischen hatten ihre Spiele unterbrochen und starrten sie an.

      „Was verlangen Sie von mir?“

      „Du musst einen Mann töten.“

      Inzwischen standen die Spieler von den anderen Tischen um sie herum und schrien: „Du musst tun, was wir alle getan haben. Du musst einen Mann töten.“

      Nach Solveigs Bemerkung über ihren Ausstieg beim Turnier in Mumbai hatte die Unterhaltung mit ihrer Großtante eine andere Wendung genommen. Sie waren nach einem langen Schneespaziergang auf dem Flǿyen angelangt, und Victoria zeigte ihr die Altstadt von Bergen und den Hafen. Die Sonne brach durch, und die Stadt präsentierte sich von ihrer schönsten Seite. Erst nach ihrer Rückkehr kam Solveig am Abend während des Essens auf das Pokern zurück: „Das Gute an dem Spiel ist, dass es jeder schnell lernen kann. Das Gefährliche ist, dass jeder genauso schnell denkt, er beherrsche das Spiel. Abenteurer und Verlierer, Enttäuschte und Egomanen, die nach oben wollen und ihren Traum vom schnellen Reichtum ohne Arbeit wahr machen möchten, bevölkern daher die Turniere, aber auch Feiglinge und Draufgänger, die in einfache Fallen tappen. Ob man gewinnt oder verliert, hat aber nicht nur mit Glück zu tun. Auf Dauer erhält jeder gleich gute wie schlechte Karten.

      Beim Pokern geht es um Wetten mit unvollständigen Informationen. Permanent muss man den Wert seines Blattes kalkulieren: Lohnt es sich zum Beispiel, mit einer Karo Neun und einer Herz Zehn weiterzuspielen? Wie oft kann aus zwei Paaren ein Drilling und ein Paar werden, also ein Full House? Und die Entscheidung muss man immer in Bezug zur Summe des gesetzten Geldes treffen und berücksichtigen, dass über einhundert Millionen Kombinationen möglich sind.“

      „Gibt es immer noch die berühmten Unterschiede zwischen den Geschlechtern?“

      „Oh ja! Männer neigen deutlich mehr als Frauen zur Spekulation. Und sie neigen zur Überschätzung der eigenen Prognosefähigkeiten. Zudem stimmt es auch, dass diese Überschätzung bei jüngeren Männern besonders hoch ausfällt.“

      „Vermutlich lässt sich der Einfluss des Alters leicht mit der fehlenden Erfahrung erklären. Denn es ist genau die Erfahrung, die einen lehrt, dass die eingebildete Kontrolle eben doch nicht vorhanden ist.“

      „Ja, die Erfahrung habe ich auch gemacht. Wenn Männer in eine Situation mit hohen Verlusten geraten, die sie nur ungern sich selbst, ihrer Ehefrau oder einem Geldgeber eingestehen wollen, haben sie neben der Möglichkeit, einzugestehen und zu verlieren, die Alternative weiterzuspielen und somit zumindest die theoretische Chance, das Spiel noch zu gewinnen. Mein Eindruck ist, dass Männer im Verlustbereich deutlich risikofreudiger handeln, als wenn sie sich im Gewinnbereich befinden, obwohl sie oder vielleicht auch weil sie in solchen Verlustsituationen kaum noch realistische Einschätzungen abgeben können.“

      Solveig dachte an Tasha Maltby, eine der Spielerinnen des Turniers in Mumbai. Tasha war ein Gelegenheitsmodel aus Malta und hatte vor kurzem noch bei einem Versender Waren eingepackt. Vor einem Jahr hatte sie ein Turnier im Fernsehen verfolgt und danach Spielversuche im Internet gemacht. Sie startete zum zweiten Mal bei einem großen Turnier, hatte etwas Geld gespart und witterte die Chance, auf einen Schlag genug Geld zu scheffeln, damit sie davon die nächsten dreißig Jahre leben konnte.

      „Wenn ich den ersten Tag überstehe, kann ich gewinnen“, sagte sie zu Solveig, während sie an den Fingernägeln kaute.

      Von den fünfhundert Spielern, die das Turnier begonnen hatten, waren am Ende des ersten Tages fast einhundert ausgeschieden, zu Beginn des dritten Tages waren noch knapp zweihundert dabei. Auch Tasha hatte den zweiten Tag überstanden und hatte schon ein Preisgeld zusammen, das nach Solveigs Erinnerungen etwa fünfhunderttausend neuen Euro entsprach und deutlich höher war als ihr eigenes Spielergebnis.

      „Ich zittere am ganzen Körper, weil mein verrückter Traum wahr wird“, sagte sie zu Solveig am Morgen vor der dritten Spielrunde. „Was für ein Glück, dass hier überwiegend Männer spielen. Männer sind so einfach gestrickt. Wenn ich mich sexy anziehe, setzen sie mehr. Arsch und Titten machen sie high.“

      Sie hatte ein Bustier mit Tigerfellstreifen angezogen, dazu eine Leinenhose ohne Slip und Stöckelschuhe. Am vierten Tag, an dem Solveig nicht mehr spielte, trug Tasha ein schwarzes Seidenkleid mit einem Ausschnitt, der bis zum Bauchnabel ging und keinen BH erlaubte. Als Kai sie sah, bemerkte er zu Solveig: „Tasha will die Männer in den Wahnsinn treiben, die Maus präsentiert heute ihre Brüste. Sie hat gestern ganz ordentlich gespielt, aber sie ist zu unerfahren, um das Turnier zu gewinnen.“

      „So ist es“, fügte Dani hinzu, „ihre naive Begeisterung, die sie bisher durchs Turnier getragen hat, wird nicht genügen. Sie ist zu gierig, der Druck wird sie auffressen.“

      So war es auch. Als nur noch dreiundsechzig Spieler dabei waren, drängelten sich die Zuschauer um ihren Tisch. Tasha führte und hatte zweihundertzehntausend in den Pott geschoben. Auf dem Tisch lagen ein König, eine Dame, eine Zehn und eine Fünf. Um daraus eine Straße zu machen, hätte man ein Ass und einen Buben gebraucht. Gequält drehte Tasha ihre Karten um, denn sie hatte zwar ein As, aber keinen Buben. Ihr Gegner dagegen schob ein As und einen Buben in die Mitte. Zuschauer zeigten Schadenfreude, und einer sagte: „Brauchst du Geld, Tasha? Hast ein schönes Kleid an. Ich gebe dir tausend, wenn du es ausziehst.“

      Sie verlor die Selbstkontrolle, am Ende des Tages hatte sie noch achtzigtausend.

      Solveig erzählte ihrer Großtante die Geschichte von Tasha. „Am Ende sagte sie mir,