Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101 nebst seiner Vorgeschichte


Скачать книгу

Frauen nicht allzu sehr. Auch bei Männern kann man, wenn man sie genau beobachtet, erkennen, ob sie schauspielern und nichts auf der Hand haben. Die meisten übertreiben beim Bluffen und verraten ihre Unsicherheiten oder ihre Verzweiflung durch versteckte Gesten.“

      „Du hast“, versetzte Victoria, „den Einsatz von Computerprogrammen erwähnt. Werden sie bei Turnieren benutzt?“

      „Es ist offiziell verboten, sie zu benutzen. Aber es ist bekannt, dass sich die Spieler nicht an das Verbot halten. Die Programmchips sind wie beim Schach so klein, dass man sie im Gebiss implantieren kann, die Kamera sitzt unter einem Fingernagel und ein Lautsprecher im Gehörgang. Eine Kontrolle wäre nur möglich, wenn man jeden Spieler sorgfältig untersucht, die Durchleuchtung mit einem Körperscanner genügt nicht mehr. Da sich die Programme aber gegenseitig zu neutralisieren scheinen, hat man das Verbot stillschweigend aufgehoben. Denn in Stresssituationen, wenn die aufgedeckten Karten nicht den vorausberechneten Eintrittswahrscheinlichkeiten entsprechen, muss der Spieler seine Entscheidung schnell treffen und begeht natürlich Fehler. Es kann nur einer gewinnen, die anderen verlieren, und wenn man plötzlich am Abgrund steht, hat man Angst. Jeder hat dann Angst. Männer, die vollkommen stoisch bleiben und nichts verraten, trifft man äußerst selten an.“

      Solveig machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr: „Der Einsatz dieser Programme hat mir nicht gefallen. Ich glaube, das war einer der Gründe warum ich mit dem Pokern aufhörte.“

      Die Stimmung war bedrohlicher geworden, auch das Licht hatte sich verändert. Die den Tisch umstehenden Spieler machten feindliche oder verächtliche Bemerkungen. Das Licht hatte seinen warmen Gelbton verloren und beleuchtete den Spieltisch mit einem kalten Weißgrau. Dagegen waren die anderen Tische wieder in der Dunkelheit versunken. Solveig saß noch immer an ihrem Platz und versuchte, die Karte aufzunehmen. Wo der Direktor gestanden hatte, drängelte sich eine Frau nach vorne. Es war Tasha. Sie blickte Solveig an und sagte: „Wenn du überleben willst, musst du sein Angebot annehmen. Oder mach es wie ich.“

      Sie ließ ihr Kleid zu Boden gleiten. Ihr nackter Körper war schneeweiß, doch allmählich entstanden Muster auf der Haut, bis sie über und über mit Spielkarten tätowiert war. Die Spielkarten begannen, sich zu bewegen; es schien, als würden die Könige, Damen und Buben miteinander reden oder gegeneinander kämpfen. Plötzlich sprangen einige von den Königen und Buben auf den Spieltisch und verdeckten die dort ausgelegten spielbestimmenden Karten. Tasha begann sich aufzulösen. Zuletzt verschwanden ihre Augen.

      Solveig wandte ihren Blick ab, sie wollte sich auf keinen Fall ausziehen und zerrte an der festklebenden Spielkarte. Ihr Leben hing davon ab, die letzte Karte zu sehen. Sie brauchte eine Dame. Mit einer Dame würde sie ihr verlorenes Geld zurückgewinnen.

      Plötzlich riefen einige Männer: „Sie ist ein Cyborg, sie betrügt uns, sie kann durch unsere Karten hindurchsehen. Bringt sie um!“

      Solveig blickte nach unten und sah, dass ihr Kleid durchsichtig geworden war. Nein, nicht nur ihr Kleid, sondern auch ihre Haut. Sie sah ihre Knochen und Adern, aber die Knochen waren aus Stahl und die Adern aus Plastik. Sie war kein Mensch, sondern eine Maschine.

      Heftiger zerrte sie an der Spielkarte. Endlich gelang es ihr, sie aufzunehmen und zu betrachten. Die vierte Karte war leer.

      Kapitel 39: 2:00 Uhr: Ouvertüre in Dongcheng

      Um zwei Uhr nachts – zehn Minuten nach der ersten Meldung – beschloss der in der Bonner ATA-Zentrale diensthabende Nachrichtenoffizier, seinen Chef Bouvier zu wecken und zusätzlich, ohne dessen Zustimmung abzuwarten, weitere Mitglieder der Sondereinsatzgruppe „11. September“ anzurufen. Auf der großen Videowand mit Abbildung aller Erdteile war nämlich um ein Uhr fünfzig europäischer Zeit eine Eilmeldung aus Peking erschienen: Um acht Uhr vierundvierzig Ortszeit hatten mehrere Explosionen stattgefunden, und in der Chang-An-Straße östlich des alten Stadtzentrums war ein großes Gebäude eingestürzt. Die aktuellen, der Eilmeldung beigefügten Satellitenaufnahmen zeigten über der angegebenen Einsturzstelle eine graue Staubwolke. Auch außerhalb der Wolke waren Einzelheiten wegen des Smogs und einer Inversionswetterlage nur undeutlich zu erkennen.

      Bei der zweiten, fünf Minuten später erfolgten Nachricht waren die Angaben bereits präziser, und aus mit Infrarotkameras aufgenommenen Satellitenfotos ließen sich der Umfang der Zerstörung und Einzelheiten ausmachen. Bei dem eingestürzten Gebäude handelte es sich um das sechshundertachtzig Meter hohe Ministerium für Energieversorgung. Offenbar hatten eine oder mehrere Detonationen im unteren Bereich des Hochhauses das Gebäude nicht nur zum Einsturz gebracht, sondern es so kippen lassen, dass es quer über die achtspurige Chang-An-Straße gefallen war und dabei nicht nur zwei Hochhäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite, sondern auch einige weiter entfernt stehende Gebäude so schwer beschädigte, dass sie ebenfalls teilweise einstürzten. Die Trümmer des Ministeriums bedeckten die Chang-An-Straße, auf der der Verkehr zusammengebrochen war und sich Fahrzeuge aus westlicher Richtung bis zum Platz des himmlischen Friedens stauten. Die Trümmer der Obergeschosse der beiden anderen Hochhäuser, von denen eins als Sitz des Ministeriums für Welthandel diente, waren auf eine Querstraße gestürzt, die Bedeutung als eine wichtige Nord-Süd-Achse besaß, und hatten nicht nur dort, sondern fast im gesamten Stadtbezirk Dongcheng den Durchgangsverkehr zum Erliegen gebracht.

      Inzwischen berichteten auch die öffentlichen Sender über die Ereignisse in Peking; weitere Nachrichten sowie Webcam-Übertragungen schilderten die in den ersten Meldungen übergangenen Einzelheiten. Die Bilder, die die Webcams übertrugen, zeigten das Grauen: von Gesteinsbrocken und herabgefallenen Metallteilen erschlagene oder schwerverwundete Menschen; Schuttberge, zwischen denen verwirrte, verletzte, schreiende oder weinende Menschen ohne Ziel herumliefen, unter Trümmern verschüttete Menschen, von denen hier ein Bein und dort ein Arm oder der Kopf zu sehen war; unter Trümmern begrabene Fahrzeuge; ineinander verkeilte und brennende Fahrzeuge; Asche und Rauch; Stahlbetonträger, Mauerstücke, Zementbrocken und Treppenstufen; Glassplitter überall, Teile von Büromöbeln, Stühlen, Tischen und Schränken; Teppichbodenreste und Bodenfliesen; Fensterrahmen, abgerissene, verbogene Rohre, Bruchstücke von Wänden und Waschbecken; Kabel, Computerteile und Papierfetzen; Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter, die herumstanden und nicht wussten, wo sie zuerst anpacken sollten; Menschen aus benachbarten Gebäuden, die auf die Straße gegangen waren, nicht begriffen, was sich ereignet hatte, und entsetzt auf das Hochhausskelett starrten, das wie ein gefällter Baum in Schräglage auf den niedrigeren Hochhäusern der anderen Straßenseite lag, sie zusammenpresste und ihre Fenster nacheinander zum Zerplatzen brachte, ein Skelett, aus dem sich immer noch Teile lösten und herabfielen.

      Als der Nachrichtenoffizier gegen zwei Uhr fünfzehn fünf Mitglieder der Bonner sowie acht Mitglieder der Londoner Einsatzgruppe zu einer Video-Konferenz zusammengeschaltet hatte und Bouvier als ranghöchster Teilnehmer mit der Bitte um eine Zusammenfassung der Ereignisse begann, enthielt der Bericht nicht nur die Schilderung der Hochauseinstürze in der Chang-An-Straße, sondern auch Erkenntnisse über weitere Zerstörungen. An zwei neuralgischen Stellen des U-Bahnnetzes waren zur gleichen Zeit Detonationen erfolgt. Bei diesen Stellen handelte sich um zentrale Umsteigstationen, um U-Bahn-Kreuze der wichtigen Ost-West-Linie mit zwei Nord-Süd-Strecken; Trassen und Tunnel waren zerstört, Züge konnten in diese Stationen nicht mehr einfahren.

      Mit den Worten: „Offizielle Stellungnahmen über die Anzahl der Toten und Verletzen liegen noch nicht vor, aber Kommentatoren der Fernsehsender sprechen von zehntausend Opfern“, beendete der Nachrichtenoffizier seine Zusammenfassung.

      Bouvier ergriff das Wort. Mit den Toten und Verletzten hielt er sich nicht lange auf, sondern kam schnell zu dem Thema, das für ihn besonders wichtig war: „Gibt es schon Vermutungen über die Ursachen oder konkrete Hinweise?“

      „Da sich die zwei Explosionen im U-Bahn-Netz gleichzeitig mit der Zerstörung des Hochhauses ereigneten, schließt die Polizei einen Zufall aus. In einer Meldung um neun Uhr fünf Ortszeit erklärte eine Polizeisprecherin, man vermute, es handele sich um eine sorgfältig geplante terroristische Aktion anlässlich des hundertsten Jahrestages des elften Septembers 2001. Die Attentäter seien in Kreisen uigurischer Islamisten