nie eine Rolle darin gespielt. Hinzu kam, dass so viel Unausgesprochenes zwischen ihnen lag. Sie hätte einen Abschluss gebraucht, um die Angelegenheit endgültig verarbeiten zu können. Doch tief in ihrem Inneren ahnte sie, dass sie unter seinem Fortgehen trotzdem nicht weniger gelitten hätte. Luc fehlte ihr unsagbar.
Im Frühjahr des nächsten Jahres zogen die Mutter und sie zur Großmutter. Aufgrund einiger baulicher Mängel hatte sich der Umzug um Monate verzögert. Doch das Palais entschädigte für vieles. Es war beeindruckend. Riesige Empfangsräume, feudale Appartements, eine große Galerie mit atemberaubendem Blick auf die Seine, lange Korridore und ein wunderschöner Park standen ihnen zur Verfügung. Es dauerte einige Zeit, bis sich Henriette zurechtfand. Allerdings gab es eine Tür, die verschlossen blieb und Lotti machte ein großes Geheimnis darum, weshalb.
Doch die Neugierde wurde von einem anderen Gefühl übertroffen, denn mit einer Sache freundete sich Henriette sofort an: mit der Stille. Es gab kein Gedränge, keine Höflinge und vor allem keine Großtante mit Gefolge, was vor allem ihre dreißigjährige Tochter Charlotte betraf, die kurz nach ihrem Umzug im März aus Italien zurückkehrte. Sie hatte ihren Mann – den Herzog von Modena – verlassen, mit dem sie zehn Kinder gezeugt hatte. Leider starben vier von ihnen. Aber das war für Charlotte nie so wichtig gewesen wie Vergnügungen aller Art. Davon hatte es in der Heimat ihres Mannes angeblich zu wenig gegeben, außerdem lebte ihre große Liebe Richelieu in Frankreich. Alle Welt vermutete, dass er der eigentliche Trennungsgrund war. Allerdings hatte Charlotte nur ihre Tochter Maria Fortunata mitgenommen und die restlichen Kinder zurückgelassen wie unliebsames Gepäck. Ihre Abreise aus Modena wurde jedenfalls mit einem Jubelfest gefeiert und man erzählte sich, dass ihr Mann am lautesten von allen gefeiert hätte. Das glaubte Henriette unbenommen.
„Freust du dich auch so auf unsere Sommerfrische?“, erkundigte sich Diana und hakte sich bei Henriette unter, als sie durch den Park spazierten.
„Sicher.“ Das war nur die halbe Wahrheit.
„Noch ein Monat.“
„Ja.“
„Oder ein Jahrhundert?“
„Genau.“ Henriette blickte zu ihr. „Entschuldige, was hast du gesagt?“
„Wo bist du bloß mit deinen Gedanken?“ Diana kratzte sich am Kinn. Der rote Fleck sah nach einem Mückenstich aus. „Du hast Angst, was dieser Sommer mit sich bringt, nicht wahr?“
„Na ja, meine Ausbildung ist zu Ende.“ Diana kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, wenn etwas nicht in Ordnung war. „Lange wird es nicht mehr dauern, bis ich verheiratet bin.“
„So mutlos habe ich auch geklungen. Aber inzwischen bin ich überglücklich. Dein Bruder ist das Beste, das mir passieren konnte und unser Sohn Antoine macht mein Leben perfekt.“
Sie kamen an einigen Kiefern vorbei, die bereits lange Schatten warfen. Henriette löste sich von Diana und lehnte sich an einen Stamm. „Dass du meinen Bruder liebst, ist ein Glücksfall. Erst recht, dass Louis deine Gefühle erwidert. Doch wir wissen beide, dass so etwas Seltenheitswert hat und der Herzog von Penthiévre ist nicht mehr der Jüngste. Wenn ich schon heiraten soll, dann möchte ich wenigstens einen jungen Mann. Keinen Vaterersatz.“ Lautes Hämmern durchbrach die wohltuende Ruhe. In Lottis unmittelbarer Nachbarschaft war ein ebenso beeindruckendes Palais entstanden, auf dem sich heute viele Handwerker tummelten.
„Daher weht der Wind. Du träumst von einem Prinzen auf einem weißen Pferd.“
„Warum nicht?“ Henriette fuhr mit der flachen Hand über den rauen Stamm und dachte an Luc. Nach wie vor hatte sie nichts von ihm gehört. Kein Brief. Nichts. Nur die Mutter hatte auf Umwegen erfahren, dass es ihm gut ging. Zumindest vor ein paar Monaten. Da war er in Prag gewesen. Einen Tag nach dieser Neuigkeit hatte Henriette ein Portrait von ihm gezeichnet, das sie seither in ihrer Schatztruhe aufbewahrte. Egal wie die Dinge gelaufen waren, Luc würde immer einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben bleiben.
„Gibt es etwa schon einen Mann, der dir gefällt?“
„Wie kommst du darauf?“, fragte Henriette verwundert.
„Du wirkst plötzlich so verträumt.“
Henriette unterließ ihr Tun. „Was du immer denkst.“
„Könnte ja sein.“ Diana lächelte. „Lass uns hineingehen. Das Abendessen wird bald serviert und ich habe einen gesegneten Appetit.“
„Hattest du den nicht auch, als du mit Antoine schwanger warst?“ Henriette schlenderte neben Diana auf das Palais zu. Einer der Gärtner goss gerade die Blumen, die zu beiden Seiten der breiten Eingangstreppe blühten. „Und jetzt fällt mir auf, dass du zugenommen hast.“ Sie blieb stehen. „Kann es sein, dass du …“
„Ja“, rief Diana lachend aus und drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse, als wäre sie trunken vor Glück. „Ich bekomme ein Kind. Ist das nicht wunderbar?“
„Weiß es mein Bruder schon?“
Diana blieb stehen und schwankte etwas. „Natürlich. Er ist schließlich der Vater und sollte es als Erster erfahren.“ Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. „Leider hat er im Augenblick ziemlich viel zu tun. Ich sehe ihn kaum noch.“
„Das wird sich ändern, sobald wir auf Schloss Ussé sind.“
Jetzt lachte Diana wieder. „Stimmt. Das wird die beste Zeit unseres Lebens, du wirst sehen. Denn ich fühle geradezu, dass auch dir die große Liebe bald begegnen wird. Sofern sie das nicht längst getan hat.“
3. Kapitel
15. Juli, Schloss Ussé
Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster des Salons im Ostflügel und hob die imposanten Gemälde auf der gegenüberliegenden Wand ins Licht. Kleine Staubpartikel flirrten durch den Raum und sanken auf den Boden. Die roten Brokatvorhänge blähten sich, als würde die hereinströmende Luft mit ihnen spielen.
Henriette ließ das Schriftstück auf ihren Schoß sinken, nachdem sie es gelesen hatte. Dabei schaute sie zum großen Mahagonitisch, der mit Fingerabdrücken übersät war, und um den sich ihre Familie scharte. Das Papier raschelte. Ihr Bruder Louis blickte hoch. Sein rabenschwarzes Haar tauchte in die Lichtflut ein. In seinen grün–braunen Augen stand Neugierde. Henriette hob das Blatt in die Höhe und tat so, als würde sie es zerreißen. Enttäuscht sanken Louis’ Mundwinkel herab, dann zuckte er mit den Achseln und wandte sich wieder dem geliebten Familienspiel zu.
„Henriette, lenk deinen Bruder nicht ab!“, befahl Großmutter Lotti, die neben Louis saß. „Du weißt doch, das Whist verlangt absolute Konzentration. Geh hinaus, vertritt dir die Füße oder mach dich anderweitig nützlich.“ Erwartungsvoll rieb sie die von Adern durchfurchten Hände aneinander. „Ich spüre meine Glückssträhne förmlich.“
Henriette legte das Schreiben auf den Beistelltisch.
„Wenn du dich da mal nicht täuschst“, neckte Diana die Großmutter und zwinkerte Louis zu.
„Wie lange willst du die Karten mischen, Babette? Bis mich der Schlag trifft?“, regte sich Lotti auf, die Diana nicht weiter beachtete. So entging ihr auch deren nachdenklicher Blick. Zwar hatte sich ihr Verhältnis gebessert, aber es war eher Akzeptanz als Sympathie von Lottis Seite aus. Allerdings war es ein großes Zugeständnis, dass Diana seit kurzem beim Whist mitspielen durfte.
Henriette stützte sich mit den Unterarmen auf die Stuhllehne auf. Das Knarren veranlasste die Großmutter erneut zu einem finsteren Blick, während Henriettes Mutter halbmondförmig die Karten auf dem Tisch ausbreitete. Das fröhliche Zwitschern der Vögel im Park belebte den Raum, in dem ansonsten nur gespanntes Atmen zu hören war.
„Wir lassen dir den Vortritt, Lotti“, gewährte Henriettes Mutter, die in letzter Zeit müde aussah. Die Großmutter nickte und