sie, als hätte sie Mitleid. Doch dann straffte sie die Schultern und schob Henriette an, als wäre sie eine Kuh, die man gewaltsam auf die Weide treiben müsste. „Es ist Zeit für das Abendessen und du, junger Mann, hörst auf so daherzureden. Dir geht es gut. Sehr gut sogar. Glaub mir, du hättest es tausendmal schlechter erwischen können.“
Als Henriette Stunden später im Bett lag, musste sie immer wieder an die harten Worte der Großmutter denken. Ihr Umgang mit Luc war alles andere als nett. Ständig nörgelte sie an ihm herum, von ihrer Kälte ganz zu schweigen. Umso mehr litt Henriette mit Luc. Zwar wirkte er nach außen hin gelassen, aber sie wusste, dass ihm die Situation zusetzte.
Einem inneren Impuls folgend verließ sie ihr Bett und tapste in den Gang hinaus, der im Dunkeln lag. Lucs Zimmer befand sich direkt neben ihrem. Leise drückte sie die Klinke herunter und schlich sich in sein Zimmer, in dem das übliche Chaos herrschte. Überall lagen seine Sachen herum, sogar auf dem Boden. Eine Kerze brannte auf dem Nachttisch.
„Henriette, was tust du denn hier?“ Luc richtete sich auf, während sie ans Bett trat. Wie es aussah, hatte auch er kein Auge zugetan. „Es muss weit nach Mitternacht sein.“
„Keine Ahnung, wie spät es ist. Ich wollte nach dir sehen, weil ich mir Sorgen mache.“
Er rückte zur Seite. „Das ist unnötig. Ich bin Großmutters Schikanen längst gewöhnt.“
Henriette setzte sich auf die Bettkante. „Dass du sofort darauf zu sprechen kommst, zeigt mir, dass es dich sehr wohl beschäftigt.“
Luc grinste. „Du kennst mich gut, Schwesterherz. Manchmal ist das beinahe unheimlich.“
Sie lachte leise. „Wir sind eben Geschwister“, erwiderte sie und wurde ernst. „Ich fühle, wenn es dir nicht gutgeht. Darf ich mich zu dir legen?“
„Natürlich.“
Wenige Augenblicke später streckte sie sich neben ihm aus und seufzte, weil er den Arm um sie legte und an sich zog. In seiner Nähe fühlte sie sich unendlich geborgen. Schon als kleines Mädchen war sie oft in sein Zimmer gekommen. Vor allem wenn sie von Albträumen geplagt wurde. Niemandem gelang es besser, sie zu trösten. „Manchmal vermisse ich unseren Vater. Aber wenigstens habe ich dich, Luc.“
„Nun ja, als Vater fühle ich mich zu jung.“
„Du weißt, wie ich das meine. Wie war Vater denn so?“
„Habe ich dir das nicht schon oft genug erzählt?“, reagierte er beinahe vorwurfsvoll.
„Wenn du über ihn sprichst, habe ich wenigstens das Gefühl, dass er existent war. Im Gegensatz zu dir durfte ich ihn nie kennenlernen und mir ein eigenes Bild über ihn machen.“
„Du hast nicht viel versäumt.“ Wie hart er klang! Zutiefst verletzt.
„Aber alles kann doch nicht schlecht gewesen sein.“
„Für mich schon“, fuhr Luc fort.
„Und wie war er Mutter gegenüber? Glaubst du, dass sie sich geliebt haben?“ Schon einige Male hatte sie die Mutter danach gefragt, doch sie war ihr immer ausgewichen. Als würde auch sie die Zeit am liebsten totschweigen.
Luc lächelte. „Sieh an, du interessierst dich für die Liebe und das in deinem Alter.“
„Ich bin schon sechzehn“, verteidigte sich Henriette und gähnte. „Aber weißt du, was mich wirklich froh macht?“ Sie wandte ihm den Kopf zu.
„Nein.“
„Dass ich dich habe.“
Luc küsste sie liebevoll auf die Stirn. „Ich bin auch froh, dass du meine Schwester bist. Was würde ich bloß ohne dich tun, du kleine Nervensäge?“
Sie lächelte. „Tja, irgendwann werden sich unsere Wege trennen.“ Ein bitterer Geschmack lag auf ihrer Zunge, als sie weitersprach: „Spätestens dann, wenn ich heiraten muss.“
„Hat Mutter dahingehend bereits etwas angedeutet?“ Er klang genauso wenig begeistert wie sie sich fühlte.
„Sie erwähnte kürzlich den Herzog von Penthiévre.“ Der Gedanke an diesen Mann behagte ihr ganz und gar nicht. „Aber ich kenne ihn überhaupt nicht.“
Luc drückte sie enger an sich. „Da ist das letzte Wort sicher nicht gesprochen. Ich hoffe jedenfalls, dass dir Mutter einen Mann sucht, der dich glücklich macht. Bisher hat sie immer auf unser Wohl geschaut. Das wird sich bestimmt nicht ändern. Also Kopf hoch, das wird schon.“
„Wieso gibt es dich nicht als Bruder und als Mann?“, scherzte Henriette, doch plötzlich hatte sie Tränen in den Augen und konnte nichts dagegen tun. „Du weißt so gut wie ich, dass Ehen in dieser Familie wie Geschäfte geschlossen werden, die möglichst gewinnbringend sein müssen. Louis und Diana sind das beste Beispiel dafür. Mir wird es nicht anders ergehen.“
„Du solltest Mutter in dieser Sache vertrauen“, beruhigte Luc sie. „Und mir. Ich schwöre dir hiermit, dass ich deinen Zukünftigen auf Herz und Nieren prüfen werde.“
„Gefallen sollte er mir aber auch und er muss nett sein. Zuvorkommend, aufrichtig, vor allem treu. Unternehmungslustig, fröhlich, humorvoll …“
Luc lächelte, was jedoch aufgesetzt wirkte. „Wunderbar! Da habe ich wohl den Mund zu voll genommen. So ein Mann muss erst gebacken werden … oder du musst ihn dir schöntrinken. Vielleicht mit Whiskey?“
Sie lachte leise. „Du erinnerst dich noch daran?“ Mit elf Jahren hatte sie davon gekostet und sich nur langsam von dem Hustenanfall erholt, was Luc damals amüsiert zur Kenntnis genommen hatte.
„Natürlich, diesen Anblick werde ich nie vergessen.“ Endlich sah er etwas gelöster aus. „Du hast förmlich mit dem Tod gerungen.“ Ihr gemeinsames Lachen verklang im Raum, dann kuschelte sich Henriette an ihren Bruder und schlief ein.
Luc saß nahe beim Fenster auf der Chaiselongue und beobachtete die Mutter, wie sie mit Henriette und ihrer Bediensteten Benedikta die Kuchentafel deckte. Die fünfunddreißigjährige Dienstbotin hatte moosgrüne Augen, war ziemlich dürr, wirkte stets eingeschüchtert und hatte ihr brünettes Haar wie üblich unter einer weißen Haube versteckt. Benedikta fiel jedoch nicht nur durch Fleiß auf, sondern hatte eine Schwäche für schöne Kleider, was sich auch jetzt bemerkbar machte. Ständig schielte sie auf die Robe seiner Schwester. Von Henriette wusste er, dass Benedikta regelrecht für den Schneider Laffay schwärmte. Er war der beste in ganz Paris.
„Ist dieser Tag nicht großartig?“, freute sich Lucs Mutter.
Heute war der siebzehnte Dezember – sein Geburtstag. Wie üblich machte sie ein Aufheben darum, obwohl er am liebsten seine Ruhe gehabt hätte, denn an Geburtstagen lag ihm nicht viel. Andererseits hätte es die Mutter verletzt, wenn er nicht wenigstens so getan hätte als ob. Die Jubelfeste ihrer Kinder waren für sie seit jeher immer wichtig gewesen und insgeheim musste er zugeben, dass es gut tat, sich im selben Maße geliebt zu fühlen wie die anderen. Insofern war die Mutter neben Henriette der wichtigste Mensch in seinem Leben.
„Ich freue mich schon auf den Apfelkuchen“, ließ Henriette verlauten und legte die Gabeln neben die Teller. Luc grinste, weil sie aussah, als würde sie sich am liebsten sofort auf den Kuchen stürzen. Henriette hatte eine große Schwäche für Süßes, besonders wenn sie aufgeregt war.
Als hätte sie seinen Blick gespürt, blickte sie hoch und lächelte. In ihrem blauen Damast–Kleid sah sie hinreißend aus. Ihr langes schwarzes Lockenhaar hatte sie heute gezopft und mit Silberspangen kreisförmig am Hinterkopf befestigt. Sie war der Mutter sehr ähnlich, die früher eine Schönheit gewesen war, bis sie die Pocken bekommen hatte. Seitdem war sie durch Narben entstellt. Im Gesicht wie am Körper. Auf einem Auge war die Mutter sogar blind, weswegen sie auch nicht mehr stickte, obwohl sie das immer gerne getan hatte. Doch das war längst nicht alles, worauf sie verzichtete. Sie, die einst auf keinem Ball fehlte, hatte sich ganz und gar von der höfischen Bühne zurückgezogen. Nur am Maskenball in Versailles nahm sie teil und notgedrungen am jährlichen