Bärbel Junker

Der Perlmuttbaum


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den Blick auf eine flache, silbrig schimmernde Scheibe frei. Samiras nahm sie in die Hand und blickte auf die ebene Fläche, deren pulsierendes Leuchten sie an den „Stein der Wahrheit“ erinnerte. Das Leuchten wurde intensiver, nahm ihren Blick gefangen. Und eine zarte Stimme erklang:

      „Du hast den alten Ginkgo-Baum zu neuem Leben erweckt und damit eine weitere wichtige Stufe auf deinem gefahrvollen Weg zum Perlmuttbaum erklommen. Deine nächste Aufgabe wartet in der Ruinenstadt Preleida auf dich.

       Doch zuvor begib dich zur Handelsstadt Zophtarr. Suche dort den Gnomen-Händler Urselik auf und gib ihm die silberne Scheibe in deiner Hand. Er wird dir dafür die Augen der Schlangenstatue Czolisade geben, die am Ortseingang Preleidas Wache hält. Einen roten für das linke und einen grünen für das rechte Auge. Setze sie in den Kopf der Statue ein, bevor du das rote Zaubersamenkorn zu Füßen Czolisades vergräbst.

       Ist das getan, suche den Platz, auf dem der Perlmuttbaum neu entstehen wird. Nur mit ihm bleibt der alte Ginkgo-Baum am Leben und die noch immer vom Verderben bedrohte Welt wird gesunden. Doch bevor du jetzt gehst, lege das blaue Korn in die Muschel, schließe sie und gib sie dem Fluss zurück. Er wird sie dorthin tragen, wo ihre Erfüllung auf sie wartet.

      Du aber wirst mit deinen treuen Gefährten hier in Sicherheit die Nacht verbringen und morgen Früh dem Fluss in nördlicher Richtung folgen. Wenn ihr den Wald verlassen wollt, wird er sich öffnen und euch durchlassen.“ Das Wispern verstummte und mit ihm das pulsierende Leuchten.

      Samiras legte das blaue Korn in die Muschel und klappte sie zu. Dann legte sie sie in das plötzlich schneller strömende Wasser und schaute ihr hinterher, bis sie in der Ferne verschwand. Erst dann stand sie auf und ging zurück zu ihren Gefährten, um ihnen von ihrer neuerlichen Vision zu berichten.

       KRETOX UND IONT

      Das Krachen und Bersten des zerspringenden Felsens ließ Kretox erschrocken aufspringen. „Was war das denn?“, zischte er. Mit dem Skorp im Schlepptau rannte er einen langen Korridor entlang. Staub und Lärm wiesen ihnen den Weg. „Wie ist denn das passiert?“, keuchte Kretox, als er den durch Felsen versperrten Mineneingang sah. „War das ein Erdrutsch, oder was?“ Und als der Skorp nur mit den Schultern zuckte: „Nur gut, dass es einen zweiten Ausgang gibt.“

      „Wenn es ein Erdrutsch war, könnte noch mehr zerstört worden sein“, meinte der stiernackige Bruno. „Vielleicht sollten wir uns besser erst mal um die Gefangenen kümmern. Nicht, dass sie aus Versehen zu früh absaufen. Dann können wir den Elfenschatz nämlich vergessen. Ohne den Elf und die Frau finden wir das Elfenland nie. Ich hab gehört, die arbeiten da mit Magie. Die sind nicht so leicht kleinzukriegen wie die Bevölkerung von Kaffra.“

      „Verdammter Mist!“, giftete Iont und rannte los. Die anderen hinterher.

      In der Höhle blieb Kretox so abrupt stehen, dass der Skorp gegen ihn prallte. Wütend schnappten seine gefährlichen Kauwerkzeuge zu. Hätte Kretox nicht zufällig im selben Moment Kurt am Boden sitzen sehen und einen großen Schritt in seine Richtung gemacht, würde ihm jetzt wahrscheinlich ein Teil seiner Gliedmaßen fehlen. So bemerkte er jedoch nichts von Ionts Absicht und dessen höllische Kauwerkzeuge knallten über nichts als Luft knirschend zusammen.

      „Zum Teufel, Kurt! Was ist denn mit dir passiert?“, keuchte Kretox und starrte entsetzt auf den leeren Ärmel und die Blutlache darunter. Dann sah er die leeren Pfähle im Wasser und die verkohlten Krebstiere. „Das glaub ich einfach nicht“, knurrte er.

      „Das ist Zauberei!“, kreischte der Skorp. „Sie sind gefährlich, hab ich zu dir gesagt. Aber nein, du wolltest ja nicht hören, musstest ja deine blödsinnigen Spielchen spielen. Wie sollen wir denn jetzt die Elfenstadt mit ihren Schätzen finden? Und wovon willst du nun die Krieger bezahlen, die uns bei der Vernichtung der Sandokka helfen sollen?“, schrie er außer sich vor Wut.

      „Meine Krieger und ich haben dir bei der Vernichtung deiner Feinde nur geholfen, damit du uns gegen die Sandokka hilfst. Ohne uns hättest du dieses verdammte Dorf am Rande der Todeswüste niemals auslöschen können. Ohne uns hätten sie dich und deine Leute am nächsten Baum aufgeknüpft, so wie die dich gehasst haben.

      Wir wollen die Sandokka-Stadt und den „Fluss des Lebens“ und solltest du uns das durch deine bodenlose Dummheit verdorben haben, wird sich mein Volk an dir und deinen Männern rächen. Und was das heißt, vermagst du dir nicht einmal in deinen kühnsten Träumen vorzustellen“, zischte Iont und seine grässlichen Kauwerkzeuge knirschten vor mühsam unterdrücktem Zorn. Am liebsten hätte er diesen Idioten von einem Magier hier und jetzt aufgefressen. Magie! Pah! Der Blödkopf hatte doch keinen blassen Schimmer. Aber noch brauchte er ihn!

      Kretox wich ängstlich vor dem Skorp zurück, denn im Grunde seines Herzens war er feige wie so viele großspurige Menschen. „Nun beruhige dich doch, Iont“, suchte er diesen zu besänftigen. „Natürlich helfen wir dir beim Kampf gegen die Sandokka, das ist doch gar keine Frage. Aber zuerst einmal sollten wir die Flüchtigen verfolgen. Weit können sie noch nicht gekommen sein.“

      „Mein Arm. Ich verblute“, wimmerte Kurt. „Das Biest hat mir den Arm abgebissen, als ich die Gefangenen aufhalten wollte.“

      „Was für ein Biest?“, knurrte Kretox. „Zum Teufel, wovon redest du eigentlich?“

      „Eine riesige schwarze Pantherin. Der reinste Teufel, sage ich dir.“

      „Das ist sie! Das ist sie!“, kreischte Iont und hüpfte wie ein Pingpongball auf und ab.

      „Und wieso sind die ganzen Viecher tot?“, fragte Kretox, ohne den Skorp zu beachten.

      „Das weiß ich auch nicht“, flüsterte Kurt.

      „Das war die Pantherin“, keifte der Skorp. „Sie macht Feuerblitze mit ihren Augen. Große, große Magie! Sie verbrennt alles! Dich, mich, alles, alles!“, kreischte er völlig hysterisch.

      „Das kann stimmen“, sagte Sappo, ein riesiger Schwarzer. „Rico hat sie auch gesehen, aber er dachte, er halluziniere, weil er schon wieder getrunken hatte.“

      „Diese verfluchte Bestie!“, tobte der Skorp. „Ich töte sie! Ja, ich töte sie! Ich schneide ihr die Augen raus. Ich ziehe ihr das Fell ab. Ich schneide sie in tausend Stücke! Ich hasse sie! Ich hasse sie!“ Wie von Sinnen schmiss er sich hin und hämmerte mit den Zangen an Händen und Füßen so vehement auf den Boden ein, dass Gesteinssplitter durch die Gegend flogen.

      Jetzt ist er völlig verrückt geworden, dachte Kretox.

      „Weißt du sonst noch irgendwas?“, fragte er den Schwarzen.

      „Na ja, Boss. Sie hat unsere Pferde fortgejagt“, und als ihn Kretox mordlustig anfunkelte: „Aber unsere Ersatzpferde hat sie glücklicherweise nicht entdeckt. Wir können sofort aufbrechen, wenn du willst.“

      „Gut. Sag den Männern, in zehn Minuten geht es los“, befahl Kretox. „Wir holen sie uns zurück und dann geht es zu den Elfen und ihren Schätzen.“

      „Ja, und danach löschen wir die Sandokka aus“, zischte der Skorp.

      „Und was wird aus mir, Kretox?“, wimmerte Kurt. „Verdammt, ich brauche einen Arzt.“

      „Und woher soll ich den nehmen? Tut mir leid, Kurt, aber ich kann nichts für dich tun. Vielleicht, wenn wir zurückkommen.“ Er drehte sich um und ging hinaus.

      Samiras und ihre Gefährten waren leicht zu verfolgen, denn sie hatten in der Eile eine gut sichtbare Spur hinterlassen.

      „Ich glaube, sie wollen zu dem versteinerten Baum“, sagte Kretox, der die Gegend so gut wie seine Westentasche kannte. „Ich kann mir nur nicht vorstellen, was sie dort wollen. Da ist weit und breit nichts. Nur ausgetrockneter Boden und Steine.“

      „Wir müssten bald da sein“, meinte der Skorp. Kretox nickte. Schweigend ritten sie weiter. Plötzlich