Norman Dark

Lotus im Wind


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einige Jahre älter war als die Kleine. Nur die Zweitälteste saß mitten im Raum, wobei sie ihre Füße und ihren Unterkörper unter der Decke des beheizten Tisches kotatsu wärmte, der im Winter einen Ort der familiären Gemeinsamkeit darstellte, während die anderen sich im Hintergrund hielten. Da sie offensichtlich das Sagen in diesem Haus hatte, ergriff sie sogleich das Wort.

      »So, du bist also die kleine Emi. Ich muss sagen, du machst deinem Namen alle Ehre, denn Emi bedeutet mit Schönheit gesegnet, wie du vielleicht weißt. Aber dass dir das nicht zu Kopf steigt, hörst du? Bevor du eine maiko, also eine Geisha-Auszubildende wirst, musst du uns vorerst dienen und einige Zwischenstufen absolvieren. Mit uns meine ich mich und meine Töchter. Ich bin die okāsan dieser okiya. So heißt hier das Wohnhaus der Geisha-„Familie. Ich unterstütze deine Ausbildung, indem ich das komplette Ausbildungsgeld bezahle, das du mir später einmal zurückzahlen wirst. Und bis du eine geiko bzw. Geisha wirst, werden noch viele Jahre vergehen. Gemeinsam sind wir deine neue Familie, deshalb möchte ich, dass du mich „Mutter“ nennst.«

      Emi zuckte kaum merklich zusammen. Der Gedanke, eine fremde Frau Mutter zu nennen, bereitete ihr augenblicklich Kummer.

      »Dreh dich einmal«, sprach die strenge Frau weiter. Die Frau, die Emi für eine Dienerin hielt, gab ihr einen Schubs und machte eine Geste, die sich im Kreis drehen bedeutete.

      »Ja, ganz ordentlich. Das könnte etwas werden.«

      »Also, ich finde, sie sieht wie eine Bauernmagd aus. Ungelenk und tollpatschig ist sie noch dazu«, sagte die Schönheit mit den weniger freundlichen Augen.

      »Vergiss nicht, Sakura, dass es bei dir auch ein langer Weg war, bis du zu der ehrwürdigen Geisha mit den anmutigsten Bewegungen geworden bist«, wies „Mutter“ sie in die Schranken. »Es war ein Stück harter Arbeit und hat mich eine Menge Geld gekostet, dass du noch nicht vollständig zurückgezahlt hast.«

      Sakura, deren Name mit Kirschbaum beziehungsweise -Blüte gleichzusetzen war, machte ein Gesicht als habe sie auf etwas Saures gebissen.

      »Ich hoffe, du bist dir deines Glückes bewusst, hier ausgebildet zu werden«, wandte sich die okāsan wieder an Emi. »Ein Vorzug, den die wenigsten Mädchen in Japan genießen können.«

      »Ich werde alles tun, was Sie verlangen«, sagte Emi schüchtern.

      »Das ist brav. Dann fang gleich damit an, indem du nicht ungefragt redest. Und dem „Sie“ fügst du noch „Mutter“ hinzu.«

      Emi schaute betroffen zu Boden und nickte nur.

      »Wenn der Tag gekommen ist, an dem du sechs Jahre, sechs Monate und sechs Tage alt bist, also an deinem 2190. Lebenstag wirst du zunächst eine shikomi und ebenso wie meine kleine Riko die Gesangs- und Tanz-Übungsstätte kaburen-jō hier im hanamachi be-suchen, in dem man deine künstlerischen Fähigkeiten in Bezug auf Tanz und Musik weckt und fördert..«

      Emi schaute interessiert zu dem Mädchen hinüber, dessen Name „Jasminkind“ bedeutete. In diesem Moment fand sie es ganz normal, dass Riko ihr in der Ausbildung voraus war, da sie ja etwas älter war. Dass man das Wohnviertel der Geishas hanamachi, also Blumenviertel, nannte, gefiel Emi sehr, denn es hörte sich hübsch an und machte die fremde Umgebung etwas weniger feindlich.

      »Später gehst du in die „nyokoba“ Schule«, sprach die okāsan weiter, »dort findet dann deine Tanzprüfung statt. Aber bis es so weit ist, wirst du hier in der okiya mit deiner Arbeit fleißig Wattan unterstützen.« Mutter deutete auf die ältere Frau, deren Namensbedeutung aus der Heimat lautete. »So, jetzt hast du alle, bis auf meine schöne Tochter Himawari kennengelernt.« Mutter lies ihren Blick zu der Frau mit dem freundlichen Gesicht schweifen. »Auch sie ist eine höchst ehrbare und berühmte geiko, die, was den Ruhm angeht, Sakura kaum nachsteht. Ich möchte, dass du meinen Töchtern mit Respekt begegnest und sie ebenfalls mit „Sie“ ansprichst, wenn du ihnen antwortest, außer bei Riko, die nur wenig älter als du ist.«

      Die okāsan klatschte in die Hände.

      »So, jetzt wird der kleine Dreckspatz gebadet und anschließend ziehst du, Wattan, ihm etwas Vernünftiges an. Es wird Zeit, dass Emi aus ihren Lumpen herauskommt. Am besten, du wirfst alles gleich ins Feuer. Möchtest du noch etwas zu dir nehmen, bevor man dich zur Ruhe bettet, Emi?«

      »Ja, wenn Sie so freundlich wären.«

      »Wenn Sie so freundlich wären, MUTTER.«

      Yumiko saß in ihrem Wohnraum und konnte es kaum erwarten, dass ihre Freundin und Mitbewohnerin, Mayumi, nach Hause kam. Mayumi arbeitete nachts in einer Bar im Kyōtoer Vergnügungsviertel. Dabei verdiente sie so gut, dass sie den Hauptteil der Miete aufbrachte. Yumiko hätte sich das teure Haus am Rande des Gion-Viertels kaum leisten können, da es aber unweit ihrer Arbeitsstätte, dem Gion Corner Theater lag, war sie froh, es so gut getroffen zu haben. Geld war ohnehin kein Thema zwischen den Freundinnen, die sich schon seit der Schulzeit kannten.

      Inzwischen hatte die Küche in der unteren Etage des Hauses, die Yumiko nutzte, wieder ihr normales Aussehen angenommen. Der Spuk war schnell vorbei gewesen, aber Yumiko hatte ihn natürlich nicht vergessen können. Auch musste sie immer wieder an die Puppe im Theater denken, die ihr so viel Angst machte. Yumiko trug nämlich zum Programm des Theaters bei, indem sie eine Puppenspielerin des bunraku, einer Puppenspielkunst mit mehr als vier-hundert Jahren Tradition, war. Schon ihr Vater hatte diese Kunst ausgeübt und in seiner Tochter eine begeisterte Schülerin gefunden. Seiner Berühmtheit und Fürsprache hatte sie es zu verdanken, in das Ensemble aufgenommen worden zu sein. Denn es war ein Novum, dass auch Frauen dabei sein durften. Über die Jahrhunderte war bunraku ausschließlich von Männern präsentiert worden. Bunraku-Ken hatte diese Kunst einst in Ōsaka etabliert und sie zunächst „ningyô-jôruri“ – Puppen-Erzähl-Drama genannt. Dabei vereinten sich drei Künste in einer – Puppenspiel, Gesang und Musikbegleitung – „sanmi ittai“, die besondere Ästhetik der Aufführungen und drei Genüsse in einem.

      Die etwa achtzig Zentimeter hohen Puppen trugen prachtvolle Kostüme, wobei die Puppenspieler schwarzgekleidet und maskiert waren, damit sie nicht von den Puppen ablenkten. Nur der Meister, der den Kopf und die rechte Hand der Puppen führte, trug ebenfalls prächtige Kostüme, oft mehrere über-einander, die er bei den Verwandlungen der Puppen zeitgleich abwarf. Ein zweiter Spieler bediente die linke Hand und ein dritter die Füße.

      Der dramatische Text - joruri wurde dabei nicht von den Spielern gesprochen, sondern von einem oder mehreren gidayu-Sängern vorgetragen. Emotionen waren nur an deren Mimik, der Interpretation oder an Stimmvariationen abzulesen. Dazu gab es die Be-gleitung einer Langhalslaute – eines sogenannten shamisen – und untergeordneten Musikinstruments wie die „liegende japanische Harfe“ das koto, Tamburine und Klanghölzer.

      In den frühen Morgenstunden traf Mayumi Tsukuda endlich ein und wunderte sich, ihre Freundin noch wach zu sehen.

      »Was ist dir denn widerfahren?«, fragte sie leicht angeheitert, »ist dir ein yôkai begegnet?«

      »So könnte man es ausdrücken. Als ich nach Hause kam, hatte sich das Haus ziemlich verändert, genauer gesagt meine Küche.«

      Yumiko erzählte kurz von ihrem Erlebnis.

      »Das ist mir auch schon passiert«, sagte Mayumi, »dass ich dachte, im falschen Haus gelandet zu sein. Meistens, wenn ich etwas zu viel getrunken hatte.«

      »Mit dem Unterschied, dass ich nüchtern war.«

      »Jetzt nimm das doch nicht so ernst. Vorüber-gehende Sinnestäuschungen gehören zum Leben. Kein Wunder, bei den vielen Reizen, denen wir täglich ausgesetzt sind. Unser Körper ist eben kein Automat, der immer einwandfrei funktioniert. Besonders die Augen nicht. Das siehst du schon daran, wie viele Frauen hässliche Männer heiraten, oder umgekehrt.«

      »Ein bisschen ernster könntest du mich schon nehmen.«

      »Tue ich doch. Was ist schon passiert? Dich hat ein Spuk genarrt, und jetzt ist alles wieder wie vorher.«