Norman Dark

Lotus im Wind


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lassen. Na, wie wär’s? Einmal auf der anderen Seite des Zuschauerraums zu sein, wird dir guttun.«

      »Ja, gern, ich habe schon lange kein kabuki-Theater mehr besucht. Kunststück, es gibt ja nur noch das eine in Kyōto.«

      Das traditionelle Bühnentheater kabuki war in Japan noch immer sehr beliebt. Einmal, weil es neben der Darstellung auch Musik und Gesang bot, aber besonders, weil es nach wie vor ausschließlich von Männern aufgeführt wurde. Das war einmal anders gewesen, denn 1603 hatte eine Tempeltänzerin, namens Okuni, im trockenen Flussbett von Kyōto eine neue Art von Tanztheater erfunden, woraufhin weibliche Darsteller im alltäglichen Leben spielende Szenen aufführten. Dabei stellten sie auch die männlichen Rollen dar. Weil die Darstellung oft etwas derb und zweideutig erschien, verbannte man ab 1629 alle Frauen von der Bühne, um die öffentliche Sittlichkeit nicht zu gefährden. Wegen der großen Beliebtheit des kabuki spielten fortan Männer alle Rollen, bis heute. Als typisches Merkmal galt weiterhin eine Art Laufsteg von der Bühne durch das Publikum, womit ein engerer Kontakt zu den Darstellern hergestellt wurde. Diesen Steg nannte man hanamichi, also Blumenweg, im Gegensatz zum Geisha-Viertel hanamachi – Blumenstraße oder -Viertel. Von den sieben kabuki-Bühnen im 17. Jahrhundert in Kyoto war nur das minami-za Theater erhalten geblieben.

      Während der Vorstellung war Yumiko dann ebenso von der Anmut und Grazie der männlichen Darsteller, die Frauenrollen spielten, beeindruckt wie die vielen ausländischen Besucher. Deshalb konnte sie es kaum erwarten, Harukos Freund gegenüber zu stehen, und war dann sehr überrascht, dass der seinem Namen alle Ehre machte, denn Ikuo Wakahisa bedeutete: „für immer jung bleibender, duftender Mann“, während Haruko lediglich für Erstgeborener stand. Ikuo wirkte, als er in seiner normalen Kleidung vor ihr stand in keiner Weise effeminiert, sondern war vielleicht nur etwas hübscher als andere junge Männer, und seine weichen Gesichtszüge verliehen ihm etwas Edles. Yumiko war vom ersten Moment an von ihm fasziniert, und das lag nicht allein daran, dass sie ihn zuvor in der Rolle einer anmutigen Frau gesehen hatte. Der Blick seiner schönen Augen ruhte öfter auf ihr, und Yumiko fühlte ein angenehmes Kribbeln, das sie etwas verwirrte.

      Ikuo schlug vor, noch etwas essen zu gehen. Er hatte auch gleich ein passendes Restaurant parat, ein Geheimtipp sozusagen. Dort bekam man auch noch um diese Uhrzeit ein Mahl serviert, und es war bei Touristen gänzlich unbekannt. Bevor sie sich auf den Weg machten, entschuldigte sich Ikuo für einen Moment und sprach mit einem jungen Mann, der in einiger Entfernung auf ihn wartete. Yumiko und Haruko sahen, wie das anfangs ruhige Gespräch zwischen den beiden immer turbulenter wurde und der Fremde schließlich wild gestikulierte, bis Ikuo ihn einfach stehen ließ.

      »Ärger?«, fragte Haruko, als Ikuo zurückkam.

      »Nicht wirklich, mein Kollege hat sich den Verlauf des weiteren Abends etwas anders vorgestellt, das ist alles.«

      »Warum hast du ihn nicht mitgebracht?«

      »Weil ich heute mit euch zusammen bin«, war die knappe Antwort Ikuos. Deshalb ließ es Haruko darauf beruhen.

      Beim Essen erwies sich Ikuo als charmanter Gesprächspartner, und es schien, als habe er den peinlichen Vorfall längst vergessen.

      »Eigentlich müsste ich dir böse sein, dass du mir deine entzückende Freundin bisher vorenthalten hast«, sagte er lächelnd.

      »So oft sehen wir uns schließlich nicht«, erwiderte Haruko, »außerdem muss ich leider zugeben, dass Yumiko nur meine Kollegin ist.«

      »Ah, Sie sind auch Puppenspielerin? Das kleine Mädchen will also auch noch als erwachsene Frau mit Puppen spielen.«

      »Das liegt bei uns in der Familie. Mein Vater war berühmt in dieser Hinsicht.«

      »Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen, mein Lieber«, sagte Haruko grinsend, »sonst müsste man dich fragen, was einen gestandenen Mann dazu veranlasst, sein Brot in Frauenkleidern zu verdienen.«

      »Das ist ganz einfach, ich bin beides, im Leben der Mann und auf der Bühne die Frau. Schon als Kind habe ich mit Vorliebe die Sachen meiner Schwester angezogen und mich mit der Zeit in die Rolle eingelebt.«

      »Und das machen Sie großartig«, sagte Yumiko, »so manche Frau könnte sich da eine Scheibe von abschneiden, was die Grazie und den Anmut Ihrer Bewegungen angeht.«

      »Danke, das Lob eines weiblichen Menschen ehrt mich besonders.«

      »Das nennt man „fishing for compliments“, du kabuki-Star«, zog Haruko Ikuo auf, »dabei bekommt er täglich Dutzende solcher Komplimente.«

      »Trotzdem kommt es immer darauf an, wer etwas sagt«, fügte Ikuo hinzu und sah dabei Yumiko offen in die Augen. »Sie sind aber nicht in der Kaiserstadt geboren, Yumiko, nicht wahr? Denn ich höre bei Ihnen keine Anzeichen von Dialekt, weder die vornehme Variante des Kyōto-Dialekts kansai, noch eine weitere Abstufung der japanischen Höflichkeitssprache keigo

      »Nein, ich komme aus Yokohama und lebe noch nicht so lange hier.«

      »Und ist es Ihnen gleich gelungen, eine hübsche Wohnung zu finden?«

      »Ja, ich bewohne mit einer Freundin zusammen ein Haus in Gion, ganz in der Nähe des Gion Corner Theaters.«

      »Soso, zu den maikos und geikos hat es Sie gezogen…«

      »Nicht unbedingt, es war mehr ein Zufall, aber ich bewundere die Kunst der Geishas sehr. Ich schaue ihnen oft bei ihren Tänzen bei uns im Theater zu. Und die Kunst des Ikebana und die Teezeremonie beherrschen sie vollendet.«

      »Wären Sie selbst gerne eine Geisha geworden?«

      »Ich glaube nicht. Jedenfalls habe ich nie darüber nachgedacht, vielleicht, weil mir die Ausbildung zu lang und zu kompliziert ist und ich mich nicht so sehr zur Dienerin eigne. Außerdem kann ich nicht gut singen, und ob meine Schönheit ausgereicht hätte…«

      »Jetzt fängst du auch noch an mit dem „Fishing«, lachte Haruko, »das ist wohl ansteckend.«

      »Ja, ich finde auch«, pflichtete ihm Ikuo bei, »wegen der Schönheit hätten Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Und heute sind die Sitten auch nicht mehr so streng. Die Ausbildung erstreckt sich nicht mehr von der Kindheit bis über die gesamte Jugendzeit. Früher durften Geishas nicht einmal heiraten und lebten nur für ihren Beruf. Wisst ihr, dass es auch männliche Geishas gibt?«

      »Womit wir wieder beim Thema wären«, scherzte Haruko, »außerdem gibt es wohl heute nichts mehr, was es nicht gibt.«

      »Nein, wirklich, ich habe von einer aus Tokyō gelesen. Der Sohn einer Geisha hat sich von seiner Mutter in die Kunst einweisen lassen und übt sie heute selbst aus. Damit ist er übrigens nicht der Einzige. Es hat schon früher männliche Geishas gegeben, da nannte man sie noch taikomochi, eine Art Hofnarren, sie sangen, erzählten Geschichten und Witze und führten kleine Zaubertricks und Kunststücke auf. Als Narren, ähnlich denen an den Fürstenhöfen der europäischen Länder, konnten sie sich sehr derbe Späße erlauben, denn sie genossen die sprichwörtliche Narrenfreiheit.«

      »Das wäre doch etwas für dich gewesen«, sagte Haruko lächelnd.

      »Ich weiß, aber ich bin ganz zufrieden beim kabuki. Die Kunst besteht in der Andeutung, und nicht immer im Aussprechen.«

      »Hört, hört.«

      »Wenn Sie noch nicht so lange hier wohnen, Yumiko, haben Sie vielleicht noch nicht alle Tempel und shintō-Schreine unserer ehemaligen „kaiserlichen Residenz“ besichtigt. Ich bin kein schlechter Fremdenführer und hätte großes Vergnügen, Sie etwas herumzuführen.«

      »Hört, hört.«

      »Ich glaube, die Platte hat einen Sprung, Haruko, du solltest sie auswechseln.«

      So wurde den Rest des Abends noch heiter geplaudert und die eine oder andere Spitze geworfen. Yumiko ging vieles im Kopf herum, als sie zu Hause ankam. Der Charme Ikuos hatte bei ihr seine Wirkung getan, deshalb hatte sie die Einladung zu einer kleinen Stadtführung angenommen. Auch