Wilma Burk

Wo du hingehst, will ich nicht hin!


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auch! Das kannst du glauben. Tschüß denn!“, verabschiedete sich Traudel.

      Ich legte das Telefon aus der Hand und fiel zurück ins Kissen. Sofort sprang Julchen zu mir aufs Bett. Während sie sich nun wohlig unter meiner streichelnden Hand streckte, hing ich meinen Gedanken nach. Eigentlich wäre es schön, Susanne mit ihrer Familie wieder in meiner Nähe zu haben. Sie war mir fast zu einer Tochter geworden in der Zeit, als sie in West-Berlin studiert und vorübergehend bei uns gewohnt hat. Das änderte sich auch nicht, als sie sich später mit ihrer ersten Liebe eine „Studentenbude“ nahm. Doch auch als diese Liebe zerbrach, sie sich danach in Robert, einen Medizinstudenten, verliebte und schwanger wurde, kam sie weiter mit ihren Sorgen zu mir. Zuerst quälten sie Zweifel, ob sie das Kind austragen sollte, aber dann redete ihr Robert zu, und sie entschieden sich dafür. Da gab sie ihr Studium auf und begann diese noch kleine heruntergekommene Boutique aufzubauen. Und jetzt sollte sie alles, was sie bisher erreicht hatte, aufgeben? Unrecht hatte Traudel damit nicht, dass es ungerecht sei, wenn ein Mann darauf besteht, sein Fortkommen im Beruf wäre wichtiger als das der Frau.

      Wie hätte sich wohl Konrad, mein verstorbener Mann, an Roberts Stelle verhalten? Da brauchte ich nicht lange zu überlegen. Er hätte so eine Frage erst gar nicht aufkommen lassen. Für ihn wäre es selbstverständlich gewesen, dass ich dahin mitgegangen wäre, wo er hinging. Wie sagte Mama immer aus dem Verständnis früherer Zeiten heraus: „Wo der Mann hingeht, da soll die Frau auch hingehen.“ Wie oft hatte ich in unserer jungen Ehe gegen ihre Meinung und auch gegen Konrad aufgebockt.

      Drei Jahre waren bereits seit 1987 vergangen, seit dem Jahr, in dem er starb. Doch die Sehnsucht stirbt nicht. Morgens, wenn ich erwachte, brach sie über mich herein. Wie oft musste ich mich tieftraurig erst langsam in den Tag hineintasten. An so einem Morgen sehnte ich mich gleich nach dem Abend. Tränen, die ich längst glaubte, genug geweint zu haben, drängten dann in meine Augen. Wenn Julchen es spürte, sprang sie zu mir ins Bett und scharrte mit ihren Pfoten so lange, bis sie mein Ohr erreichen konnte, um vorsichtig daran zu knabbern. Das war ihre Hundeart, mich zu trösten, wenn ich weinte. Wie gut tat es, in ihr warmes Fell zu greifen. Sie war jetzt mein kleiner Lebenskamerad.

      Wie oft dachte ich, irgendwo da draußen vor dem Fenster, vor meiner Tür, vor meinem Haus pulsiert das Leben weiter. Doch fühlte ich mich auch, als hätte es mich vergessen, so sah ich noch gern mit den Augen einer alternden Frau dem Leben zu. Ich war interessiert an allem, machte mir Gedanken darüber und versuchte, selbst das zu verstehen, was ich eigentlich nicht begreifen konnte.

      *

      In Berlin - später West-Berlin - war ich in der Geborgenheit meines Elternhauses aufgewachsen. Behütet und von schweren Schicksalsschlägen verschont überstanden wir den Krieg. Drei Jahre danach heiratete ich Konrad. Als dann mein Bruder Bruno nach Australien auswanderte, meine Schwester Traudel mit ihrem Mann Karl-Heinz, die Kfz-Werkstatt eines Onkels von ihm in Hannover übernahm und sogar Mama, nach dem Tod unseres Vaters, zu ihnen zog, um ihre Kinder großzuziehen, da dachten Konrad und ich nicht daran, West-Berlin zu verlassen. Wir sind in all den Jahren nicht aus der Stadt fortgegangen, trotz aller Spannungen und Schwierigkeiten, die durch den Konflikt zwischen Ost und West gerade hier spürbar gewesen waren und mir stets erneut Angst gemacht hatten. Erst als Konrad wegen einer Erkrankung vorzeitig in Rente gehen musste, entschlossen wir uns zu diesem Schritt. Viele Westberliner handelten damals so. Sobald sie in Rente oder Pension gingen, verließen sie West-Berlin.

      Leben war immer in der Stadt gewesen und die ersten schweren Jahre der Nachkriegszeit waren bald vergessen. Doch die von der DDR errichtete Berliner Mauer blieb allgegenwärtig. War sie für die Westberliner später mit Passierscheinen auch durchlässig, konnten sie auch jederzeit in die Bundesrepublik fahren, so begann jede Fahrt aus der Stadt hinaus mit langen Wartezeiten an den Grenzkontrollstellen der DDR und der stets als bedrückend empfundenen Abfertigung. Dabei wurde man nie das Gefühl los, auf eine gewisse Weise vogelfrei zu sein, so sehr der Westen sich auch bemühte, durch Abkommen mit der DDR den Transitverkehr für die Reisenden zu regeln. Danach folgte die lange deprimierende Fahrt über die Transitstrecke durch die Landschaft der ehemaligen Ostzone, in der sich die Menschen zu verstecken schienen. Nur wenn man mal einen Trabi auf der Autobahn überholte, sah man darin Gesichter, die uns neugierig musterten. Das war nicht viel anders, wenn man mit der Bahn fuhr, die auch nur über vorgeschriebene Strecken die Bundesrepublik erreichen konnte. Nur mit dem Flugzeug, über Luftkorridore, die unter den Siegermächten des Krieges vereinbart wurden, konnte man sich dies ersparen. So kam es, dass immer mehr Menschen, die ihr Arbeitsleben hinter sich hatten und nun reisen wollten, Berlin verließen.

      Dabei hatte sich bereits vorher so mancher ein Feriendomizil im Westen besorgt. In kleinen Orten, von Berlin aus gut erreichbar, wuchsen regelrechte Berliner Siedlungen heran. So auch hier im Harz, in dem gemütlichen Ort Neuwied, in den wir gezogen waren. Zu dieser Zeit hatten wir nicht geglaubt, dass die Mauer jemals fallen könnte. Und doch war es im vergangenen Jahr geschehen, im November 1989. Noch waren die Grenzen danach nicht frei, aber leicht zu passieren; noch gab es eine DDR-Regierung, aber das alte System des SED-Staates war zusammengebrochen. Beide über vierzig Jahre getrennten Teile Deutschlands strebten wieder zusammen. Der gesamte Ostblock bröckelte. Stimmen in der Welt, die ein großes, einiges Deutschland gefürchtet hatten, wurden leiser. Schade, dass Konrad das alles nicht mehr miterleben konnte.

      So war ich nun allein in dem Haus mit dem schönen Garten, wo mich noch jeder Winkel an Konrad erinnerte. Hier in der guten Luft hatten wir gehofft, es würde ihm besser gehen, hier hatten wir zusammen alt werden wollen. Es war uns nicht vergönnt.

      In einer langen Ehe hatten wir zu einer tiefen Verbundenheit gefunden. Was uns jedoch nicht von Anfang an geglückt war. Erst nach Jahren mit Enttäuschungen, mit gegenseitigen Verletzungen, ja, erst nachdem wir fast daran gescheitert wären, war uns dies gelungen. Erst dann, als wir es gelernt hatten, auf den andern einzugehen, uns umeinander zu bemühen, wuchsen wir in einer lebenslangen Liebe zusammen.

      Heute kommt es mir manchmal so vor, als würde niemand mehr an eine lebenslange Liebe glauben. Und doch scheint sich jeder danach zu sehnen, nach einem Menschen, der zu ihm gehört. Nur die Geduld miteinander ist wohl verloren gegangen. Wer will sich dem andern noch anpassen? Frauen, die früher dazu gezwungen waren, weil sie in Abhängigkeit von ihrem Mann lebten, wollen sich davon befreien. Sie wollen unabhängig sein, streben danach, eigenes Geld zu verdienen, ein Berufsleben zu führen wie ein Mann. Ob das aber der richtige Weg ist, den die Emanzipation geht, seit sich die Frauen voriger Generationen gegen das Schattendasein hinter den Männern auflehnten? Ich weiß, junge Frauen wollen meine Zweifel nicht hören, weder meine geschäftstüchtige jüngere Schwester Traudel, noch deren Tochter Susanne oder irgendjemand sonst. Hatte ich selbst mich früher nicht dagegen aufgelehnt, wenn Mama den Mann in den Mittelpunkt stellen wollte? Sie hatte, aus ihrer Erziehung heraus, dem Mann, als Ernährer der Familie, stets das letzte Wort überlassen. Nur wusste sie sehr wohl dabei, wie sie mit Diplomatie oder List ihre Interessen durchsetzen konnte, ohne dass er es merkte. Doch welche Frau will das heute noch? Sie fordern: „Mit dem gleichen Recht!“, wie sie es nennen. Welche Zugeständnisse haben sie damit den Männern eigentlich abgeluchst? Manchmal möchte ich die jungen selbstbewussten Frauen von heute fragen: „Seht doch einmal genau hin, wo steht denn der Mann heute? Was habt ihr gewonnen? Wo hat er nachgegeben? Überlässt er euch nicht dieses und jenes nur, wenn es für ihn Nutzen bringt oder bequem ist?“

      *

      Julchen wurde unruhig. Ich musste aufstehen. Mühsam bewegte ich meine über sechzig Jahre alten schon schmerzenden Knochen. Wirklich wie eine Alte, dachte ich. Man spricht zwar heute vorsichtig von den Übersechzigjährigen - eine höfliche Floskel, die das Wort „alt“ vermeidet, es aber dennoch meint -. Doch wie man es auch nennt, dein Körper und der Spiegel zeigen dir schonungslos dein Alter. Innerlich bist du so, wie du immer warst, und du empfindest so, wie du immer empfunden hast, als wärest du von Jugend an nicht einen Tag älter geworden. Nur hier und da hinterließ das Leben seine Spuren.

      Den Spiegel an meinem Bett sollte ich zuhängen. Mich jeden Morgen darin zu sehen, war kein Vergnügen mehr. Der Rücken wurde mir immer runder, der Bauch drängte sich vor und der Busen ruhte sich darauf aus. Bestimmt habe ich wieder zugenommen. Auf die Waage stellte ich mich besser nicht. Gut, dass ich nicht mehr jung war, in dieser Zeit, wo nur Jugend und