Emma Berfelde

Der Tote vom Winterstein


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war auf Mittelmaß konditioniert. Er hatte die ständige Diskriminierung so satt.

      Aber hatte er sich die richtige Frage gestellt? Nicht warum, sondern für wen machte er das? Natürlich für Irene. Seine schöne Nixe vom Schwarzen Meer. Eigentlich hieß sie Svetlana, aber sie hatte nichts dagegen, Irene genannt zu werden. Alles so, wie du es willst, Bärchen, sagte sie immer. Sie war so anders als das egoistische Biest, mit dem er leider immer noch verheiratet war. Niemand wusste von Svetlana und das sollte vorerst auch so bleiben. Das Biest wird schäumen vor Wut! Mathias lächelte. Nun fühlte er sich wirklich leicht.

      Nach weiteren hundert Metern wurde ihm schwindelig. Er setzte sich auf einen Findling und überlegte, ob er die Stulle nicht doch schon jetzt essen sollte. Niemand würde ihn dabei erwischen. Dirk war nicht da mit seinem Gesülze. Ich weiß, wie schwer es ist, aber ohne Disziplin geht es nun einmal nicht. Von wegen Disziplin! Dirk hatte seine eigene Fettsucht bestimmt mit Hilfsmitteln bekämpft, die garantiert in keinem Diätratgeber zu finden waren.

      Mathias‘ Magen knurrte erneut. Ohne Stärkung würde er es nicht bis auf den Gipfel schaffen. Er kramte im Rucksack nach der Plastikbox. Er öffnete sie, nahm das Brot andächtig heraus und biss hinein. Er schloss die Augen und schob den ersten Bissen im Mund hin und her. Lecker. Vollkornbrot mit Sonnenblumenkernen. Er schmeckte Tomate und das knackige Blatt eines Eisbergsalats. Der leicht salzige Geschmack der Putenbrust kam erst danach. Und … Frischkäse! Er öffnete die Augen. Keine Butter. Wann er wohl wieder Butter essen durfte? Oder Waffeln mit Sahne? Bratkartoffeln mit Speck? Ein Croque mit Tunfisch und ganz viel Mayo?

      Die Stulle schmeckte jetzt fade. Er legte sie zurück in die Box und schob sie von sich weg. Sein Magen knurrte immer noch.

      Er war müde. Nur ein Viertelstündchen hier sitzen, das wäre schön. Er schloss die Augen. Lauschte dem Lied der rauschenden Blätter. Fühlte den wieder gleichmäßigen Schlag seines Herzens. Wer rastet, der rostet! Fuck you, Dirk! Plötzlich hörte Mathias ein scharfes Kreischen einer Bremse und schlitternde Reifen. Verfluchtes Mountainbike! Mathias riss die Augen auf, musste in die Sonne blinzeln. Er erkannte die Silhouette einer schlanken Gestalt in hautenger Funktionskleidung und einem Helm auf dem Kopf. Dann traf ein Schlag seine Nase, riss ihm die Brille herunter. Er tastete nach seinen Wanderstöcken und stemmte sich mühsam hoch. Jemand schubste ihn.

      „He, was soll das?“

      Keine Antwort, nur ein heftiges Atmen. Mathias taumelte ein paar Schritte zurück, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Seine Augen tränten und er schmeckte Blut. Wehr dich! Benutz die Stöcke! Hau einfach drauf! Er schlug wild um sich, doch die Gestalt wich ihm aus. Wie ein tanzender Kobold, dachte Mathias und schnappte nach Luft. Er spürte, wie sich zwei Hände auf seine Brust legten und ihm erneut einen Stoß gaben. Er kippte nach hinten ins Leere. Mit den Armen rudernd, versuchte er, sich an einem Ast festzuhalten. Seine dicken Finger umklammerten den Zweig. Der brach ab und Mathias verlor den Halt. Sah kurz den Himmel über sich, dann wieder schrammte sein Gesicht über bröckelige Erde und spitze Tannennadeln. Sein rechtes Knie stieß an etwas Hartes, es tat höllisch weh. Als er über einen Buckel rollte, schien er für kurze Zeit zu schweben. Der harte Aufprall nahm ihm die Luft. Es knackte. Alles wurde dunkel.

      Kapitel 2 / 5. Oktober

      „Wie lange liegt er schon da?“, fragte Kommissarin Milena König.

      Karsten Feldmann, Leiter der Spurensicherung, schob die Kapuze seines weißen Overalls zurück und kratzte sich am Kopf. Milenas Kollege Jan Sielau kroch mit anderen „Weißlingen“ den Hang zum Wanderpfad hoch. Sie befanden sich mitten im Wald, rund fünfzig Höhenmeter unterhalb des Aussichtsturms am Winterstein. Das hölzerne Gestell zeichnete sich gegen den grauen Himmel ab. Die Stelle war schwer zugänglich, weiter unten verlief ein schmaler Forstweg, der von den Autos des K 10 der Polizeidirektion Wetterau und der Spurensicherung zugeparkt war. Der leichte Wind ließ die bereits bunten Blätter der Bäume rauschen. Dieses sanfte Geräusch konkurrierte mit dem stetigen Brummen von der naheliegenden Autobahn.

      „Nach dem Stadium der Maden zu urteilen, fünf oder sechs Tage.“ Karsten wies auf einen weißen Wurm, der sich mit einer Vielzahl von Verwandten an der Wunde im Nacken des Opfers labte. „Aber ich bin nicht von der Rechtsmedizin. Bremer ist informiert, steckt aber auf der A5 im Stau fest.“

      „Bremer?“, fragte Milena. „Kenn ich nicht.“

      „Dr. Burkhard Bremer“, sagte Karsten. „Er ist neu in Gießen.“

      Einer von Karstens Leuten pickte die Made mit einer Pinzette auf und steckte sie in ein mit einer gelblichen Flüssigkeit gefülltes Glasröhrchen. Gut, dass ich das nicht untersuchen muss, dachte Milena. Die Beschreibung im Bericht wird eklig genug sein.

      Der Tote lag auf dem Bauch. Seine kurzen, braunen Haaren waren mit Schlamm, Tannennadeln und Laub verklebt. Der leichte Nieselregen der vergangenen Tage hatte die Erde um die Leiche herum aufgeweicht. Der Tote trug eine olivgrüne Wachsjacke, braune Cordhosen und hellgraue Wanderschuhe. Klassischer Wanderlook, dachte Milena. Aber kein klassischer Wanderkörper. Alles mindestens XXXL. Es muss eine wahre Tortur für ihn gewesen sein, mit dem Gewicht bis hier hoch zu laufen. War er am Ende seiner Kräfte gewesen? Milena war selbst mal am Winterstein gewandert und trotz ihrer knapp sechzig Kilo und ihrer guten Kondition war es alles andere als der erwartete Spaziergang gewesen.

      Sie hörte einen Wagen heranrollen und sah hinunter auf den Forstweg. Ein metallic-blauer Opel Vectra hielt hinter der Autokolonne. Gleich würde sich ihr Chef, Hauptkommissar Alexander Wege, durch das Unterholz kämpfen, mit der bissigen Entschlossenheit eines Jagdhundes, der zur erlegten Beute strebt. Das ging ja schnell, dachte sie. Jan und sie waren selbst erst vor wenigen Minuten angekommen und würden Alex noch nicht viel präsentieren können.

      „Habt ihr einen Ausweis gefunden?“, fragte sie. Wortlos reichte Karsten ihr einen Plastikbeutel mit dem gewünschten Dokument. „Mathias Bauer“, las sie und drehte den Ausweis um. Der Tote hatte im Dachspfad in Friedberg gewohnt.

      „Tag, Milena.“ Ihr Chef atmete ruhig, obwohl er gerade ein steiles Stück des Hanges hinaufgestiegen war. Für einige Sekunden ließ er seinen Blick auf der Leiche ruhen, die Hände in den Taschen seines Anoraks. Milena schaute ihn verstohlen von der Seite an. Gestern war sein rotblondes Haar mindestens fünf Zentimeter lang gewesen, heute trug er es wieder auf militärische Kürze getrimmt, kaum länger als die ebenfalls rotblonden Bartstoppeln an seinem kantigen Kiefer.

      „Unfall oder Mord?“, fragte Alex.

      Milena hörte Karsten leise lachen.

      „Hat die Leiche uns leider noch nicht verraten“, sagte sie breit lächelnd und reichte Alex den Ausweis.

      „Wie lange?“

      Typisch Alex! Kein Kommentar zu ihrer ironischen Antwort, sondern eine sachliche Frage. Ich bin kindisch und impulsiv, er ist vernünftig und professionell. Doch dann schämte sie sich. Dort lag eine Leiche und sie wollte sich mit ihrem Chef zanken. Sie berichtete ihm von Karstens Vermutung.

      „Wer hat ihn gefunden?“

      „Es gab einen anonymen Anruf. Männlich.“ Milena wies auf einen schmalen, mit Wurzeln übersäten Pfad durch den Wald. „Wahrscheinlich ein Mountainbiker, der das Gelände verbotenerweise als Downhill-Trail benutzt hat. Und deshalb anonym.“

      Alex nickte. „Wir müssen ihm dankbar sein. Das Laub hätte bald den ganzen Körper zugedeckt. Und dann noch die Tarnfarben der Kleidung. Die Leiche hätte in Ruhe verrotten können.“

      „Wenn ihr mich fragt: Er ist gestürzt oder wurde gestoßen. Von da oben.“ Karsten wies auf eine Stelle am Hang, an der ein großer Findling zur Rast einlud. Von dort abwärts hatten Waldarbeiter vor Kurzem eine kleine Fläche gerodet. „Es gibt zahlreiche Schürfwunden. Hat sich wohl mehrmals überschlagen, bis der erste Baumstumpf seinem Körper beim Herunterkullern eine andere Richtung gab. Der dritte Baumstumpf hat ihn dann wohl auf den Stein geworfen. Der hat ihm möglicherweise das Genick gebrochen.“

      Alex’ Blick war Karstens