Emma Berfelde

Der Tote vom Winterstein


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Stück nach oben. „Hat wohl gerade Pause gemacht“, schrie er längst nicht so kraftvoll zurück. „Wir haben hier eine angebissene Stulle in einer Brotbox. Schon ein bisschen vergammelt.“

      Alex richtete den Blick zurück auf die Leiche. „Rucksack oder eine Tasche?“

      „Nein“, sagte Milena

      „Jan“, rief Alex. „Rucksack?“

      „Nichts.“

      Alex strich sich über die Bartstoppeln, dann sah er Milena an. „Irgendwelche Wertsachen?“

      Sie zeigte ihm die anderen Plastiktüten. Sie enthielten einen Führerschein, einen Schlüssel und ein Portemonnaie. „Eine Stulle, aber keinen Rucksack. Finde ich sehr merkwürdig.“

      „Die Stulle muss nicht zu ihm gehören“, wandte Alex ein. „Vielleicht wollte er im Forsthaus Winterstein einkehren. Dann wäre ein Rucksack unnötiger Ballast. “ Er runzelte die Stirn. „Ich werde mit der Staatsanwältin sprechen, eine Obduktion halte ich für angebracht. Wen schickt die Rechtsmedizin?“

      „Einen Dr. Bremer“, sagte Milena. „Steckt aber im Stau.“

      „Bremer? Kenne ich nicht.“

      „Er ist neu in Gießen.“

      Alex zuckte mit den Schultern. „Wartet auf ihn. Und wenn ihr hier fertig seid, treffen wir uns in meinem Büro.“ Alex drehte sich um und machte Anstalten, zum Auto zurückzukehren, stoppte jedoch. „Teufel noch mal!“, rief er.

      Milena stellte sich neben ihn. Ein Mann eilte durch den Wald auf die Gruppe der Beamten zu, die den Ort absicherten. Milena lächelte. Schwarze Locken, südländischer Teint, den schlanken Körper in teuren englischen Tweed gekleidet. An einer Schulter baumelte ein Fotoapparat.

      Alex stöhnte. „Jack Russell! Woher weiß der denn schon wieder Bescheid?” Er warf Milena einen vorwurfsvollen Blick zu.

      „Frag doch Jan“, wehrte sie ab. „Die kennen sich vom Boxen.“

      ***

      Kommissar Jan Sielau fuhr den Eleonorenring entlang und bog links in die Goethestraße ein. Hier war für kurze Zeit das Heim von Elvis Presley gewesen, während seiner Zeit bei der US-Army in Deutschland. Stationiert worden war er in den Ray-Baracks in Friedberg, gewohnt hatte er aber in Bad Nauheim. Jans Großmutter behauptete, dass Elvis von seiner Kaserne ausgerissen war, um sie heimlich zu treffen. Niemand glaubte ihr. Wahrscheinlicher war, dass sie, wie die meisten, nur einen kurzen Blick auf den großen Star hatte werfen können. Doch es gab ein paar Dinge, die nicht zu leugnen waren: Jans Mutter war unehelich geboren, Jahrgang 1961. Ihre Mutter hatte sie auf den Namen Elvira getauft. Elvis' Eskapaden waren kein Geheimnis gewesen. War es nicht doch möglich ...? Nein, jetzt gab er sich Tagträumen hin. Sein Großvater sei ein charmanter, aber unzuverlässiger „Landmatrose“ gewesen, erzählten die Nachbarn seiner Großmutter. Er war als Schausteller mit der Kirmes umhergezogen und hatte in jedem Ort ein anderes Mädchen gehabt. Großmutter schwieg hartnäckig zu dieser Version der Geschichte, dementierte sie aber auch nicht.

      Jan lächelte nachsichtig, setzte den rechten Blinker und fuhr in die Schillerstraße. Dies war das Dichterviertel, eine der angesagten Wohngegenden in Bad Nauheim. Westlich der Schillerstraße wirkte noch der Charme des „Bel Époque“, als Bad Nauheim „Kaiserbad“ hieß. Oder besser Kaiserinnenbad: Die russische Zarin, Kaiserin Sisi und Kaiserin Auguste, sie waren mitsamt ihren Familien und ihrem Hofstaat regelmäßig hierher zur Kur gekommen. Die glanzvollen Zeiten waren vorüber, geblieben die prächtigen Häuser mit Stuckfassaden und kunstvollen Eisengittern an den Balkonen.

      Jan bog langsam rechts in die Luisenstraße und fuhr auf den nächsten freien Parkplatz. Er schaltete den Motor aus, blieb einen Moment im Auto sitzen und betrachtete das Haus der Eltern von Mathias Bauer. Kein „Bel Époque“ mehr, sondern ein freistehendes Einfamilienhaus mit verziertem Gartenzaun und dunkelgrünen Fensterläden.

      Es hilft nichts, dachte er. Ich muss da rein und die traurige Nachricht überbringen. Jan stieg aus und ging die wenigen Schritte durch den Vorgarten bis zur Tür. Drinnen hörte er Wasser rauschen und eine monotone Stimme aus einem Lautsprecher, die Nachrichten oder Verkehrsmeldungen vortrug. Als er die Hand nach der Klingel ausstreckte, quietschte hinter ihm das Gartentor. Ein in Rosa gekleidetes Mädchen kam auf ihn zugerannt, mit Kunststoffschmetterlingen im aschblonden Haar, in jedem Arm ein Stofftier. Als ihr bewusst wurde, dass da ein Fremder vor ihr stand, stoppte sie und drehte sich zu dem Mann um, der ihr mit langsamen Schritten folgte und Jan musterte. Seine vom Wind zerzausten, dunkelblonden Haare gaben ihm ein verwegenes Aussehen. Er trug braune Jeans und ein dunkelgrünes Hemd unter einer dünnen, hellbraunen Lederjacke.

      „Wer ist das, Ulrich?“, fragte das Mädchen und versteckte sich halb hinter den Beinen des Mannes.

      Der verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. „Ich gebe die Frage weiter“, sagte er zu Jan und kämmte seine Haare mit den Fingern glatt.

      „Kommissar Jan Sielau.“ Jan zeigte seinen Dienstausweis.

      Der Mann gab ihm die Hand. „Ulrich Bauer.“ Er schloss die Haustür auf. „Kommen Sie bitte herein. Hat irgendwer was ausgefressen?“ Er bemühte sich, belustigt zu klingen, doch Jan hörte die Unsicherheit dahinter.

      Das Mädchen stürmte an ihnen vorbei ins Wohnzimmer, dessen Tür offen stand. „Omi, Opi, ratet mal, was ich auf der Kerb gewonnen hab!“, rief sie.

      Jan atmete tief durch. Nun kam der Moment, an dem er Fingerspitzengefühl beweisen und die richtigen Worte finden musste. Etwas beklommen folgte er Ulrich Bauer in das Wohnzimmer.

      „Da muss ich nicht viel raten, Laura“, sagte gerade eine ältere Frau mit rauer Stimme. „Dies ist ein Nilpferd und das ein Husky.“ Sie stand am Fenster und beugte sich zu dem Mädchen herab.

      Sie schien im gleichen Alter wie Jans Großmutter zu sein. Das war jedoch die einzige Gemeinsamkeit. Seine Großmutter liebte bunte Rüschenkleider aus leichten, geblümten Stoffen und viel Schminke. Diese Dame bevorzugte offensichtlich einen zeitlos klassischen Look. Jans Blick wanderte über das glatte, in der Mitte gescheitelte Haar, das dezente Make-up, das marinefarbene Kostüm und blieb schließlich an den blauen Halbschuhen hängen. Straßenschuhe im Haus? Wollte sie ausgehen? Oder besaß sie gar keine Hausschuhe?

      „Ulrich hat das aus diesem Glaskasten gezogen, wo ganz viele davon drin sind. Aber es ist ganz schwer, die mit der Zange zu fassen zu kriegen. Ich hab’s so oft probiert. Ehrlich, ganz schwer.“

      „Onkel Ulrich hat sehr viel Geschick“, sagte die Frau. Als sie die beiden Männer im Türrahmen entdeckte, richtete sie sich auf. „Wer sind Sie?“

      Jan stellte sich erneut vor. Die Frau erbleichte und warf ihrem Sohn einen kurzen Blick zu. „Ist etwas mit Mathias oder Sandra?“

      „Sind Sie Ute Bauer?“, fragte Jan zurück.

      Die Frau nickte und ließ sich in einem Sessel sinken. Jans Herz klopfte. Die Worte, die er sich noch im Büro zurechtgelegt hatte, waren wie weggeblasen. Er musste improvisieren. Was hatte Alex ihm geraten? Erst alle versammeln, dann die Nachricht. „Ist Ihr Mann auch zu Hause?“

      Ute Bauer nickte erneut. „Kannst du deinen Vater aus dem Keller holen?“, richtete sie die Frage an ihren Sohn, ohne ihn anzuschauen.

      Jan wartete. Das Mädchen schien die Anspannung im Raum zu spüren und hielt die beiden Stofftiere eng an sich gepresst. Laura, hatte Ute Bauer sie genannt. Das war die Tochter von Mathias Bauer. Milena hatte das Melderegister geprüft, Bauers Ehefrau Anja Herlof lebte seit fünf Jahren von ihrem Mann getrennt, die gemeinsame Tochter wohnte bei ihr. Laura schaute ihn ängstlich aus tiefblauen Augen an. Jan schluckte. Wie wird sie reagieren, wenn sie erfährt, dass ihr Vater nicht mehr lebt? Sie sollte nicht hier sein.

      Er wollte gerade vorschlagen, Laura aus dem Zimmer zu schicken, als sich die Tür öffnete und Ulrich Bauer mit seinem Vater hereinkam, beide leicht außer Atem nach dem Treppensteigen.

      ***

      Der