Emma Berfelde

Der Tote vom Winterstein


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geklagt und war nach oben ins Schlafzimmer gegangen. Laura war nach draußen in den Garten geschickt worden, ihre Großmutter machte sich bereit für einen Spaziergang mit ihrer Enkelin durch den nahen Kurpark in die Stadt.

      „Mathias war früher ein großer, stattlicher Junge. Er hat so manchen Raufbold auf dem Schulhof nur durch seine Anwesenheit in die Flucht geschlagen. Er hat nie jemanden verprügeln müssen, um respektiert zu werden. Alle fürchteten sich vor ihm, das langte. Es lebte sich angenehm in seinem Schatten. Obwohl ich der Ältere bin.“

      Er reichte Jan ein Bild, auf dem ein etwas untersetzter Junge lachend mit einem Fußball posierte. Auf dem Trikot stand der Schriftzug „VfB Friedberg“. Es war auf dem Platz am Burgfeld aufgenommen. Dort hatte Jan auch gespielt. E-Jugend. Bei Wind und Wetter hatten sie mit ihrem Trainer auf dem Fußballplatz gestanden. Vierundzwanzig Jungen, unbändig und überzeugt, berühmte Fußballer zu werden. Vierundzwanzig Jungen, die lernen sollten, hart zu schießen und elegant zu dribbeln. Auf die faire Art, darauf legte ihr Trainer wert.

      Der Junge kam ihm bekannt vor. Jan hob das Bild näher an seine Augen. Matze? Im Hintergrund standen einige Jungen in einer Reihe und übten Torschüsse. Jans Herz setzte einen Schlag aus. Der zweite Junge war klein und schmächtig. Sein Trikot hatte eine Acht auf dem Rücken. Das war seine Nummer gewesen.

      Jan ließ das Bild sinken. Erinnerte sich. Fairplay? Dreiundzwanzig Jungen hielten sich mehr oder weniger daran. Einer nicht. Matze foulte jeden, der sich ihm in den Weg stellte. Ja, Jan erinnerte sich gut. Matze hatte ihm diverse Prellungen verpasst.

      „Dann hat er plötzlich angefangen, tonnenweise Chips zu fressen“, fuhr Ulrich Bauer fort. „Und literweise Cola in sich hineinzuschütten. Bald hatte er mehr Fett am Körper als Muskeln und der gute Ruf war dahin.“

      Jan nickte. Die Veränderung hatte er noch mitbekommen. Auch er hatte Matze gehänselt, hatte ihm auf diese Weise die vielen Schrammen und blauen Flecke zurückgezahlt. Ein Jahr später war Matze gegangen. Seitdem hatte er nie wieder etwas mit ihm zu tun gehabt. Bis jetzt.

      „Wir hatten beide unsere Probleme.“ Ulrich Bauer schien Jans Unbehagen nicht zu spüren, er plauderte unbekümmert weiter. „Pubertät eben. Ich hatte Akne und er fraß. Die Mädchen kicherten. Mathias fraß noch mehr. Ich hatte damals wenig Verständnis für seinen Kummer. Empfand meine Akne als den schlimmeren Feind. Er brauchte nur weniger zu essen. Aber ich hatte mich geirrt. Meine Pickel verschwanden. Sein Fett blieb. Die Frauen machten einen großen Bogen um ihn.“

      „Als Sie vorhin in der Küche waren, sagte Ihre Mutter, Ihr Bruder habe sein Studium der Informatik abgebrochen und sei als Assistent in einer IT-Firma untergekommen.“ Jan verschwieg, dass Ute Bauer ihre Verachtung nicht hatte verbergen können.

      „Während ich mein Betriebswirtschaftsstudium beendet und eine eigene, sehr erfolgreiche Firma aufgebaut habe.“ Ulrich Bauer breitete die Hände aus. „Hier sitzt die Hoffnung der Mutter Bauer. Noch nicht ganz zufrieden, da ihr Vorzeigesohn bis heute weder Frau noch Kinder hat. Aber sie hofft auf ein gutes Ende.“

      „Was ist mit Ihrer Schwester?“

      „Sandra ist mit einem Unternehmer verheiratet, hat zwei Kinder und ist Krankenschwester im Bürgerhospital. Alles in allem akzeptabel für Mutter, wenn auch nicht überragend.“ Er beugte sich vor. „Dabei kriselt es auch in dieser Ehe und der jüngere der beiden Söhne hatte bereits im zarten Alter von neun Jahren eine vielversprechende kriminelle Karriere gestartet. Daniel sammelt Handys. Klaut sie. Oder fordert sie ein. Gewaltsam, wenn es sein muss. Daniel ist der Schrecken der kleineren Kinder des Viertels. Seine Eltern werden von allen Seiten bedrängt, ihn in ein Erziehungsheim zu stecken, bevor es zu spät ist. Dieser kleine Mistkäfer wickelt sie aber jedes Mal um den kleinen Finger. Er ist hoffnungslos verdorben. Wenn Sie mich fragen: Früher wäre sicher noch was zu machen gewesen. Jetzt, mit zwölf, ist er kaum mehr zu bändigen. Der Zug ist abgefahren.“ Ulrich Bauer schwieg einen Moment. „Das hat Mathias immer gesagt.“

      Aha, dachte Jan. Der ehemalige Fußballrüpel hat sich also abfällig über den diebischen Mistkäfer geäußert. Daniel soll ins Heim. Der Onkel mischt sich in Sachen ein, die ihn nichts angehen? Was, wenn sie sich gestritten haben, oben am Winterstein? Ok, Mathias Bauer war kein kleines Kind. Sein Neffe kann ihn nicht alleine den Hang hinuntergestoßen haben. Aber das Alibi des Jungen sollte überprüft werden.

      „Sie und Ihre Schwester, hatten Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrem Bruder?“

      Ulrich Bauer zuckte mit den Schultern. „Wohl eher nicht. Wir haben uns nur in großen Abständen getroffen. In sehr großen Abständen.“

      Kaum Kontakt, dachte Jan. Wie die Eltern auch. Kein Wunder, dass niemand von ihnen Mathias Bauer vermisst hatte.

      „Was halten Sie von der Wanderung? Ihr Bruder ist für seine Körperfülle eine ansehnliche Steigung gelaufen. Hat er angefangen, etwas gegen seine Fettleibigkeit zu tun?“

      „Kann sein. Wie gesagt, wir hatten nicht mehr viel Kontakt.“

      „Ein Arzt könnte das vielleicht wissen. Irgendeine Idee, bei wem er in Behandlung gewesen sein könnte?“

      „Bei dem Arzt, bei dem wir alle schon als Kinder waren. Dr. Bernkast.“

      Jan machte sich eine Notiz. „Wo waren Sie am vergangenen Montag?“

      „Sie wollen ein Alibi von mir?“

      „Ja.“

      „Für einen ganzen Tag?“

      „Ja.“

      Ulrich Bauer fuhr sich mit einer Hand durch das Haar und schaute an Jan vorbei Richtung Fenster. „Montag? Ein Werktag. Meine Werktage verlaufen in letzter Zeit alle gleich. Aufstehen, Bad, Frühstücken, von acht bis acht in der Firma, nach Hause, Abendessen, aufs Sofa, Fernsehen, Bad, Bett. Allein.“

      „Hatten Sie Streit mit Ihrem Bruder?“

      An Ulrich Bauers Kinn zuckte ein Muskel.

      „Wir haben nicht gestritten. Und kaum miteinander gesprochen. Und leider können wir weder das eine noch das andere jemals wieder tun.“ Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

      Jan gefiel die Geste nicht, sie hatte etwas Theatralisches. Gespielte Trauer? Taktik oder Verlegenheit? Er konnte es nicht wirklich deuten. Er konnte die Emotionen der ganzen Familie Bauer nicht deuten. Er wollte gerne mit Alex und Milena darüber sprechen, bevor er weitere Fragen stellte. Er schaute verstohlen auf die Uhr. Heute war Heimspiel der „Roten Teufel“ und er hatte eine Jahreskarte. Er stand auf, bedankte sich für das Gespräch und reichte Ulrich Bauer seine Karte. Kaum draußen, ging er mit schnellen Schritten zum Auto. Wenn er sich beeilte, würde er es noch rechtzeitig zum Anpfiff ins Eisstadion schaffen.

      ***

      „Ich denke, dass Mathias Bauer noch an etwas anderem gearbeitet hat“, sagte David Balzer. Der Wind zerzauste sein ehemals sorgfältig frisiertes Haar. Alex war seiner Bitte nachgekommen und mit ihm nach draußen gegangen. Den Grund hatte Balzer nicht genannt. Möglicherweise wollte er ihm etwas Heikles mitteilen und fürchtete, in den Räumen der Firma abgehört zu werden. Keine Wahnvorstellung, da er als Experte für lückenlose Überwachungen die technischen Möglichkeiten kennen musste.

      „Wie kommen Sie darauf?“

      „Er arbeitet seit ungefähr sechs Jahren bei uns. Natürlich verändert sich ein Mitarbeiter während eines solch langen Zeitraumes. Er wird selbstbewusster und auch selbständiger, je besser er seine Arbeit versteht. Aber Mathias Bauer, der wurde mehr.“

      „Mehr?“

      Balzer zögerte.

      „Es kommt selten vor, dass Clemens Sänger einen seiner Mitarbeiter bevorzugt. Er bemüht sich, allen ein ...“, Balzer räusperte sich, „... ein gleichwertiger Chef zu sein.“

      „War Bauer in Geschäftspraktiken involviert, die nicht ganz korrekt sind?“

      „Nein!“, rief Balzer und schaute sich hektisch um.

      Wenn