Emma Berfelde

Der Tote vom Winterstein


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von Spalten mit abgekürzten Titeln, die er nicht verstand und Zahlenreihen. Keine Bilder, keine Videos, keine Musik und verdächtig wenig Dokumente. Vielleicht hatte Mathias Bauer irgendwo eine externe Festplatte versteckt.

      Alex zog die Schubladen des Schreibtisches auf und entdeckte ganz zuoberst ein abgegriffenes Album für Sammelbildchen, Fußball-WM 2006. Das Sommermärchen. Ansonsten fand er die üblichen Büroutensilien: Locher, Tacker, Stifte. Keine externe Festplatte.

      In dem Regal über dem Schreibtisch standen einige Ordner, die mit privaten Unterlagen gefüllt waren. Rechnungen, Bankauszüge, Steuererklärungen, einige waren Ausdrucke der im Computer gespeicherten Dateien. Er unterzog die oben liegenden Schreiben einer oberflächlichen Prüfung. Keine Schulden, keine Rechtsstreitigkeiten, zumindest nicht in jüngster Zeit.

      Alex blätterte in dem Bankordner und pfiff so laut, dass Milena aus dem Schlafzimmer kam. Er drehte sich zu ihr um und hielt ihr den aktuellsten Bankauszug hin: 25.345,15 Euro, im Plus. „Laut letztem Steuerbescheid hatte er ein Jahresgehalt von gerade mal sechsundzwanzigtausend Euro“, sagte er. „Brutto, wohlgemerkt.“

      „Es kommt noch besser“, sagte Milena und hielt grinsend zwei Sparbücher hoch. „Jeweils Zwanzigtausend, fest angelegt auf fünf Jahre mit jährlich steigenden Zinsen. Wer weiß, was sonst noch auf der Bank schlummert.“

      Er habe nichts gefunden, hatte Balzer gesagt. Keine Zahlungen für Sonderdienste. „Woher kommt das ganze Geld?“, murmelte Alex.

      „Vielleicht hat er äußerst sparsam gelebt.“ Milena schaute sich im Zimmer um. Alex folgte ihrem Blick und verstand, was sie meinte. Die Einrichtung war Massenware aus einem billigen Möbelmarkt.

      „Was ist mit dem Inhalt des Schrankes?“ Alex deutete mit dem Kopf in Richtung Schlafzimmer.

      „Es gibt Kleidung in zwei verschiedenen Größen. Er scheint in letzter Zeit einige Kilos abgenommen zu haben.“

      „Das kann sein.“ Jan war ins Zimmer gekommen und wedelte mit einem Flyer. „‚Geteiltes Leid ist halbes Leid’, heißt es hier. Ein Programm zum Abnehmen von einem Fitness-Coach namens Dirk Eismann. Lag in der Schublade vom Küchentisch. Bauer hat einen Termin notiert, der etwa ein halbes Jahr in der Vergangenheit liegt. Wir sollten da vorbeischauen.“

      „Das machst du“, entschied Alex. „Prüfe nach, ob er sich mit Diät und Sport nicht übernommen hat. War er besonders schlapp, ist er öfter umgekippt? So was in der Richtung. Wenn ja, kann das am Winterstein auch passiert sein.“

      Alex schaute auf den Ordner in seiner Hand. „Das Geld ist eine andere Sache. Für Geld mordet man. Wir müssen herausfinden, ob er noch mehr hatte.“ Alex legte den Bankordner ab und nahm einen mit der Aufschrift „Kaufvertrag“. Es ging um die Wohnung, in der sie sich gerade befanden. Der Kaufpreis war nicht gerade niedrig gewesen, Alex hätte diese Summe jedenfalls für diesen einfachen Bau nicht ausgegeben, gute Lage hin oder her. Die Wohnung war in bar bezahlt worden. Bar! Woher hatte Mathias Bauer so viel Geld?

      „Da ist noch was.“ Milena ging zurück ins Schlafzimmer, Alex folgte ihr. Vorhin hatte ihm die halb offene Tür den Blick verstellt, nun sah er sie sofort: eine kleine Puppe mit großen, blauen Klappaugen und blonden, zu Zöpfen geflochtenen Haaren. Sie trug ein Dirndlkleid, weiß mit roten Blümchen, Puffärmeln und einer roten Schürze. Die Puppe saß auf einem Kissen auf dem Bett. Gehörte sie der Tochter?

      Milena kräuselte ihre Lippen. „Nicht gerade eine Sexpuppe“, sagte sie.

      „Du klingst enttäuscht.“

      „Überleg doch mal, Alex: Ein erwachsener Mann lebt seit Jahren allein und schläft neben einer Mädchenpuppe im Dirndl. Eine Sexpuppe wäre mir definitiv lieber gewesen.“

      „Vielleicht gehört sie Laura.“ Doch was machte sie dann hier in Bauers Schlafzimmer? Jan hatte berichtet, dass Laura an den Wochenenden immer bei ihren Großeltern übernachtete.

      „Das glaube ich nicht. Ich habe die gleiche Puppe, ein Modell vom Anfang der 80er. Meine ist aber in einem besseren Zustand. Schau doch, das Gesicht sieht richtig abgeleckt aus.“

      Alex dämmerte, worauf Milena aus war. „Pädophil?“

      „Er könnte Mädchen damit angelockt haben. Vielleicht hat er auch seine Tochter missbraucht.“

      Alex strich mit einer Hand über die Borsten auf seinem Kopf. „Möglich.“

      „Und jemand hat ihn dafür bestraft.“

      Alex blickte auf die Puppe und nickte. „Sprich mit Lauras Mutter. Wenn es geht, auch mit Laura selbst. Aber sei behutsam. Wir wollen keine schlafenden Hunde wecken.“

      „Nun schaut euch das mal an!“, rief Jan. Er hatte die Tür zum dritten Zimmer aufgestoßen und sein Ausruf ließ Alex herumfahren. Im Geiste sah er Kinderleichen in Tiefkühltruhen oder luftdicht verschlossenen Plastiksäcken. Schnell folgte er Jan und atmete erleichtert auf. Bücherregale, vom Boden bis an die Decke. Fast alle Reihen waren mit Taschenbüchern gefüllt. Alex’ Blick tastete die Bretter ab. Ein paar Autoren kannte er, Stanislaw Lem und George H. Wells, P. G. Lovecraft. Tolkiens „Herr der Ringe“, auch Rowlings „Harry Potter“. Die silberblaue Perry-Rhodan-Reihe. Es gab keine Krimis oder Thriller, keine Gedichtbände und keine klassischen oder zeitgenössischen Romane. Nur Fantasy und Science-Fiction.

      Das war keine billige Regalwand, sondern die Spezialanfertigung eines Möbelschreiners. Die Regalwand war doppelt, die vorderen Teile ließen sich auf im Boden und in der Decke installierten Schienen seitlich bewegen. Fünf Regalteile an jeder Wand, davor nochmals vier. Pro Brett gab es etwa zwanzig Bücher. In jedem Regal gab es acht Reihen. Alex rechnete kurz. Allein die eine Wand bestand aus fast tausendfünfhundert Büchern. Selbst wenn Bauer trotz eines Vollzeitjobs die Zeit gehabt hätte, wöchentlich zwei Bücher zu lesen, dann konnte er sich pro Jahr rund hundert Bücher reinziehen. Nahm man einen Zeitraum von vielleicht fünfzehn Jahren an, dann war dies eindeutig zu wenig, um dreitausend Bücher zu lesen. Wahrscheinlich war Bauer eher ein Sammler denn ein Leser. Alex ging zum Regal und zog ein besonders abgegriffenes Exemplar von Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ heraus. Das kannte er noch aus der Schule. Er blätterte zur ersten Innenseite. „Helga Klein“ stand dort in einer fast kindlichen Schrift. Ein gebraucht gekauftes Stück.

      Ein Lesesessel mit einem Beistelltisch machte das Ensemble komplett. Eine in doppeltem Sinne phantastische Bibliothek und wohl ein Raum, in dem sich Mathias Bauer gerne aufgehalten hatte. Auch kurz vor seinem Tod, wie eine benutzte Kaffeetasse auf dem Beistelltisch verriet.

      „Hier ist noch etwas“, sagte Milena. Sie stand im Türrahmen und wedelte mit einer kleinen Schachtel. „Kondome. Waren im Bad. Leider keine gebrauchten im Mülleimer.“

      „Vielleicht im Schlafzimmer?“

      Milena schüttelte den Kopf.

      „Zwei Möglichkeiten“, sagte Alex. „Frauenheld oder Kinderschänder.“

      Jan stellte sich neben Milena. „Also, Frauenheld schließe ich aus.“

      „Warum?“, fragte sie. „Weil er dick war? Er hat schließlich eine Ehefrau.“

      „Und wieder verloren“, sagte Alex.

      „Es gibt hier nichts, was auf eine Frau hinweist“, sagte Jan. „Noch nicht mal ein Bild.“

      Milena verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Nicht jeder braucht das Bildnis seiner Liebsten, um sich an sie zu erinnern, Jan.“

      Alex schmunzelte. Er wusste, worauf Milena anspielte. Auf Jans Schreibtisch standen zwei Bilder seiner Freundin Saskia, im Portemonnaie steckte ein weiteres. Den Desktop seines PCs schmückte ein Schnappschuss des glücklichen Paares an irgendeinem Strand.

      Jans Gesicht überzog eine feine Röte. Doch so unfair Milena sich auch benahm, Jan würde sich nicht provozieren lassen. Alex schätzte diese Eigenschaft an ihm.

      „Frauenheld ist mir jedenfalls lieber als Kinderschänder“, sagte Milena.

      Jan zeigte Richtung