Emma Berfelde

Der Tote vom Winterstein


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      „Ok, sie hat nicht hier gewohnt. Aber das heißt nicht, dass er keine Freundin hatte. Er ist ein moderner Mensch. Sicher hat er ihre Nummer im Handy gespeichert. Wir haben keins bei ihm gefunden. Kein Mensch lebt heute ohne Handy, schon gar nicht ein Informatiker. Es war in dem Rucksack, den wir nicht gefunden haben.“

      „Weil es keinen Rucksack gibt.“ Alex schaute Milena mit festem Blick an. Sie starrte zurück. Er kannte ihre Einstellung zu diesem Punkt. Für ihn war der fehlende Rucksack reine Spekulation. Sie dachte gerne in Eventualitäten. Das war nicht falsch, aber meistens vergeblich.

      Milena schloss für einen Moment die Augen. Damit blieb er Sieger des Blickduells. Für dieses Mal. Sie wusste, dass er am längeren Hebel saß und gab nach. Vergessen würde sie nichts.

      Milena schob sich kommentarlos aus der Bibliothek, Jan folgte ihr, leise auf sie einredend. Alex schaute sich noch einmal um. Dann schloss er sich ihnen an.

      ***

      Milena joggte am Abend die kleine Runde. Zuerst lief sie von der Kaiserstraße, wo sie wohnte, über die Seewiese zum Steinernen Kreuz. In der Vergangenheit war es die Grenzmarkierung zwischen den damals noch selbständigen Städten Ockstadt und Friedberg gewesen. Heute lag es mitten im westlichen Neubaugebiet, das sich langsam, aber sicher in die Felder Richtung Taunus fraß.

      Noch kann ich die Natur hier genießen, dachte sie. Doch eines Tages wird an dieser Stelle vielleicht eine Großstadt sein, noch eigenständige Orte wie Bad Nauheim oder Rosbach werden von ihr verschluckt, Friedberg nur ein Stadtteil von ... Taunusheim? Wetterberg?

      Sie hielt an, trat auf der Stelle. Der Taunus hatte sein Herbstkleid angezogen. Der Anblick war für sie der zweitschönste im Jahr. Noch schöner war es im Frühling, wenn der Ockstädter Kirschenberg in weißer Blütenpracht leuchtete. Sie lief weiter auf dem Feldweg Richtung Ockstadt. Noch zehn Minuten, dann würde sie die Unterführung bei der B3 hinter sich gelassen haben.

      Sie blickte nach links auf die grünen Blätter der Zuckerrüben. Nach der letzten Ernte werden die Felder mehrere Wochen lang in Winterruhe versinken dürfen, um im Frühjahr wieder aufgerüttelt zu werden. Der jährlich wiederkehrende Rhythmus, dachte sie. Beruhigend und zuverlässig. Wie lange wird er noch da sein? Nicht auszudenken, wenn hier alles in eine Stein- und Teerwüste verwandelt ist. Wenn es schon nicht zu verhindern ist, dann kommt es hoffentlich nicht zu schnell.

      Sie war jetzt dreißig. Und noch Single. Sie hatte deshalb im August vor dem Rathaus fegen müssen. Ein alter Brauch, wurde ihr gesagt. Ein letzter Versuch, unter die Haube zu kommen. Jan hatte das organisiert. Ein pockennarbiger, etwas untersetzter Mann hatte sie nach unendlichen fünfunddreißig Minuten mit einem langen Kuss erlöst. Jans Bruder Andreas. Sein Kuss war erstaunlich sinnlich gewesen.

      Unwillkürlich musste sie an Elmar denken, ihren letzten Freund. Es war nicht gut gegangen. Wieder mal. Wie so oft hatte sich die anfängliche Lust in träge Routine verwandelt. Wenn es je Liebe gewesen war, so war sie nach kurzer Zeit verschwunden. Ab und zu traf sie sich noch mit ihm zum Kinobesuch oder auf einen Kaffee. Mehr lief nicht. Er hatte eine neue Freundin, und sie war immer noch alleine. Seit über einem Jahr. Sie wollte keine neue Beziehung, nur um nicht allein zu sein.

      Sie hatte inzwischen die Gewächshäuser der Gärtnerei an den Weilerwiesen erreicht. Sie drehte sich um und lief ein paar Schritte rückwärts. Ihr Blick streifte den langen Hügel, auf dem Friedberg erbaut war. Es gab drei markante Gebäude, links die Burg mit dem Adolfsturm, in der Mitte die mächtige Stadtkirche und rechts den Wartturm, ein alter Wasserspeicher aus dem vorletzten Jahrhundert. Von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtet, drehten sich gemächlich die Rotoren von drei Windrädern. Seit nunmehr vier Jahren war diese Stadt ihre Heimat.

      Milena kam aus einem Dorf in der hessischen Rhön, einer sehr katholischen Gegend. Ihre Eltern waren noch heute in der Kirchengemeinde aktiv, die zahlreichen Skandale innerhalb der katholischen Kirche hatten ihren Glauben nicht erschüttern können. Milenas Kindheit war geprägt gewesen von Ministrantendienst und Pfadfinderlagern. Ihre Teenagerzeit verbrachte sie zwischen Dorfdisco, Schützenverein und den mehr oder weniger aufregenden Veranstaltungen der Landjugend. Nach dem Abitur kam der große Wandel. Frankfurt lockte mit der Verheißung eines turbulenten Lebens in einer weltoffenen Großstadt. Sie erinnerte sich noch gut an die Freude, die sie empfunden hatte, als sie ihre Ausbildung an der dortigen Polizeiakademie begann. Als Milena mit ihrem Zeugnis in der Tasche die Stadt wieder verließ, war der Glanz verblasst, die Künstlichkeit und die Unrast der Metropole am Main hatte sie oft melancholisch werden lassen. Sie lebte in einem winzigen, aber teuren Appartement. Sie fühlte sich darin gefangen, ging so oft wie möglich raus in die Natur. Was die Städter eben Natur nannten. In Frankfurts grünen Lungen drängten sich die Ausflügler, sie nahmen ihr die Luft zum Atmen. Erholen konnte sie sich dort nicht. Der Radweg an der Nidda war von Freizeitsportlern überflutet. Im Sommer träumte sie sich weg vom Lärm der Großstadt hin zu den lauschigen Plätzen ihres Heimatdorfes. Im Winter lief sie missmutig durch den Matsch und sehnte sich nach den schneebedeckten Hügeln der Rhön. Was mache ich eigentlich hier? Diese Frage war ihr steter Begleiter geworden. Dann kam das Angebot aus Friedberg, es erschien ihr wie ein Rettungsring im tosenden Meer.

      Milena drehte sich wieder um und lief Richtung Ockstadt. Die Sonne war bereits hinter dem Taunus untergegangen, die Dämmerung würde ihr aber für den Heimweg noch genügend Licht spenden. Sie fühlte sich wohl hier. Sie brauchte keine ständige Ablenkung, kein vielfältiges Kulturangebot. Bin eben doch ein Landei, dachte sie. Bin ich auch ein zufriedenes Landei? Ledig. Single. Kinderlos. Das alles hört sich nach Defiziten an. Habe ich auch was Positives erreicht? Was macht meine berufliche Karriere? Ich bin Kriminalkommissarin. Ich könnte weiter kommen. Kriminalhauptkommissarin König, klingt doch gut. Alex klettert die Stufen der Karriereleiter höher und ich rücke nach. Das Spiel geht weiter bis zur Pensionierung.

      Sie gelangte an den Abzweig zur Hollarkapelle. Ein Auto stand etwas abseits am Feldweg. Vermutlich gehörte es Joggern oder Spaziergängern. Sie schaute sich um, konnte jedoch keinen Menschen entdecken.

      Normalerweise lief sie ihre Runden zusammen mit ihrer Freundin Ilona und deren Freund Frank. Heute jedoch nicht. Nach der Lagebesprechung hatte Milena noch ihre Aufzeichnungen in den Computer eingegeben, war deshalb länger als üblich am Arbeitsplatz gewesen und hatte erst spät loslaufen können.

      Es waren ungewöhnliche Tage gewesen. Ungeklärte Todesfälle hatten sie zwar des Öfteren zu untersuchen. Der Fall Bauer war jedoch sonderbar. Der Mann hatte tagelang im Wald gelegen, doch niemand hatte ihn vermisst. Die Witwe war froh, die restliche Familie einigermaßen gefasst. Auch Bauers Chefs waren über das Ableben ihres Mitarbeiters nicht sonderlich entsetzt. Alex glaubte an einen Unfall. Sie war anderer Meinung, aber er leitete die Ermittlungen, und er tat dies souverän. Er hatte keine Angst, Verantwortung zu übernehmen, auch wenn er mal daneben lag. Und daneben lag er selten, er hatte sich als leitender Ermittler einen guten Ruf erarbeitet. Er war bei der Polizei in Kassel gewesen, bevor ihn die Liebe oder sonst was nach Friedberg geführt hatte. Er war eigentlich kein Kleinstadtbürger, oft merkte Milena bei ihm eine Unzufriedenheit, die er aber niemanden spüren lassen wollte.

      Ich achte einfach zu viel auf ihn, dachte sie. Wird Zeit, dass ich mich auf mein eigenes Leben konzentriere.

      ***

      Jan stöhnte wohlig. Er hörte ein leises Kichern. Er stöhnte noch einmal. Er lag bäuchlings auf dem Bett, die Stirn auf einem harten Kissen, die Arme nach vorne gestreckt. Aus einem Lautsprecher klang Musik von Katie Melua. Sanft und doch kraftvoll, wie die Hände von Saskia, die rittlings auf ihm saß und seinen Rücken und Nacken mit einem nach Orangenblüten duftenden Öl massierte. „Das tut gut“, murmelte er in das Kissen. „Bisschen weiter unten.“

      Erneut hörte er ein Kichern. „Die Richtung stimmt schon mal“, sagte Saskia. „Du müsstest dich nur noch umdrehen.“

      „Am Bauch hab ich nichts.“ Er war kurz vorm Einschlafen.

      Saskia seufzte. „Ach Schatz, das soll erotisch sein. E-ro-tisch, verstehst du?“

      „Das wird heute nichts, Sissi.“ Jan schlug die Augen auf. Würde sie auf