Emma Berfelde

Der Tote vom Winterstein


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Suchmaschine würde er sicher noch fündig werden.

      „Ich weiß es nicht mehr so genau“, sagte Eismann. „Ist schon eine Weile her.“

      Das werden wir herausfinden, dachte Jan. Und wenn der Abstand zwischen dem letzten Mobbingvorfall und dem Todesdatum von Bauer gering ist, werden wir uns wieder darüber unterhalten.

      „Wann haben die neuen Kurse denn begonnen?“

      „Anfang Oktober. Genauer gesagt, der Kurs, in den Mathias rein wollte, begann am 4. Oktober.“

      „Sie haben sich nicht gewundert, dass er nicht erschienen ist?“

      „Doch, er hat sich ja angemeldet. Hat für das ganze Halbjahr im Voraus bezahlt. Ich habe mich schon auf eine stressige Stunde vorbereitet. Ihm sagen zu müssen, dass das nichts wird mit uns beiden. Dass er seinen fetten Arsch aus meiner Halle bewegen soll.“ Eismann machte mit der rechten Hand eine winkende Bewegung. „Aber er kam nicht mehr.“

      Zu deiner unsäglichen Freude, fügte Jan in Gedanken hinzu.

      „Ich dachte, er hätte endlich aufgegeben“, sagte Eismann. „Dabei war er einfach tot.“

      „Wussten Sie, dass Mathias Bauer zum Winterstein hochgehen wollte?“

      Eismann kniff die Augen zusammen. „Er sprach davon. In der Gruppe.“

      Jan schaute ihn nur an. Manchmal war Schweigen der effektivste Weg zur Information.

      „Ich habe ihm davon abgeraten, den Weg alleine zu machen, aber er wollte ja nicht auf mich hören.“ Eismann stand auf.

      „Was haben Sie am vergangenen Montag nachmittags gemacht?“

      Eismann drehte sich abrupt um. „Wie meinen Sie das jetzt?“

      „Sie haben ein starkes Motiv und sind in der Lage, einen Mann von Bauers Statur einen Hang hinunter zu stoßen.“

      „Was ich aber nicht getan habe.“

      „Sondern?“

      Eine leichte Röte überzog Eismanns Gesicht, kleine Schweißperlen liefen ihm über die Stirn. Er wischte sie hastig mit dem Handrücken weg. Gleich lügt er, dachte Jan.

      „Ich habe meine Kurse vorbereitet.“

      „Kann das jemand bezeugen?“

      Eismann zuckte mit den Schultern. „Es gibt sicher den einen oder anderen, der ...“ Er stoppte. „Vielleicht.“

      Jan suchte in seiner Jackentasche nach einer Karte. Mist, dachte er. Vergessen. Er nahm einen Flyer und einen Kuli vom Tisch und kritzelte seine Nummer direkt über die Worte „Geteiltes Leid“. Er schob das Papier über den Tisch. „Dann erwarte ich eine entsprechende Rückmeldung.“ Er wandte sich zur Tür.

      „Ich würde gerne noch mit den anderen aus Bauers Gruppe reden. Ist heute Training?“

      „Jeden Tag. Hatte ich bereits gesagt.“

      „Und wann, sagten Sie, ist das Training zu Ende?“

      Eismann seufzte. „Exakt zwanzig Uhr.“

      ***

      Milena klingelte an der Haustür. Dem sanften Ton des Gongs folgte heftiges Gezeter. Zuerst waren die Stimmen zu weit weg, um etwas zu verstehen. Dann näherten sich die Kontrahenten dem Hausflur. „Es reicht, Daniel! Die Kiste bleibt aus, bis du deine Hausarbeiten gemacht hast.“ Das klang eher hilflos als streng.

      „Olle Ziege!“ Ein Junge im Stimmbruch.

      Die Tür wurde aufgerissen und Milena blickte in das blasse Gesicht einer Frau mittleren Alters. Mathias Bauers Schwester Sandra Demandt. Die braunen Locken standen wirr vom Kopf ab, der beigefarbene Cardigan war falsch zugeknöpft und hatte in Bauchhöhe kleine rote Flecken. Spaghetti mit Tomatensoße? Und zum Nachtisch eine Portion Unverschämtheit? Daniel zeigte seiner Mutter hinter ihrem Rücken einen Vogel. Als Milena ihren Ausweis zückte und sich vorstellte, schob der Junge sich schnell an ihr vorbei in den seitlichen Flur.

      Sandra Demandt bat Milena herein und wies ihr den Weg ins Wohnzimmer. Die Frau sank in einen Sessel und vergrub das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern zuckten. „Acht Stunden Nachtschicht im Krankenhaus.“ Milena konnte sie kaum verstehen. „Und dann kommst du nach Hause und es herrscht Chaos.“

      Milena schaute sich um. Bauers Schwester hatte ein Faible für Kunst und Krempel zugleich. An den Wänden hingen Bilder, Ölschinken wechselten sich mit Aquarellen, Drucken und Fotografien ab, die meisten zeigten Motive aus der Wetterau. Milena erkannte die mit wenigen Strichen gezeichnete Silhouette der Friedberger Burg mit dem Adolfsturm. Daneben ein buntes Ölgemälde mit blühenden Rapsfeldern und Kirschbäumen, nicht besonders stilsicher umrahmt von zahlreichen Rosenfotos. In Regalen standen vor den Büchern Kerzenhalter, kleine Vasen und Porzellanfiguren, auf dem Couchtisch zwei Blumentöpfe mit Azaleen. Das geräumige Sideboard zierten Bilderrahmen mit Familienfotos. Der Staub lag dick auf den Möbeln, auf dem Sofa stapelten sich Zeitschriften und Briefe. Auf dem Boden war Hundespielzeug verstreut, einen Hund konnte Milena jedoch nicht entdecken. Nur wenige Zentimeter vor dem Fernseher lagen Glasscherben. Das klassische Parkett war übersät mit tiefen Kratzern. Doch diese Unordnung meinte Sandra Demandt sicher nicht mit „Chaos“.

      „Ihr Sohn scheint von Respekt nicht viel zu halten. Aber das ist wohl keine Seltenheit in dem Alter. Er ist zwölf, sagte Ihr Bruder.“

      „Heute nennt man das Vorpubertät. Pubertät reicht wohl nicht mehr.“ Sandra Demandt hob den Kopf und lächelte durch ihre Tränen. „Dauernd unterwegs oder Computerspiele. Und die Hausaufgaben bleiben liegen. Aber was soll’s! Bin ja selbst schuld. Wenn ich mich durchringen könnte ... Mein Mann wär sicher auf meiner Seite.“

      Ulrich Bauer hatte seinen Neffen einen Mistkäfer genannt, hatte Jan Milena berichtet. Sie konnte ahnen, welche Missetat dem jüngsten Wortwechsel vorangegangen war. Daniel hatte offensichtlich einen der gläsernen Kerzenhalter auf den Boden geschmissen, vielleicht sogar geworfen in der Absicht, damit seine Mutter zu treffen und zu verletzen.

      „Warum sieht Dani nicht, dass er sich nur selbst schadet?“

      „In diesem Alter ist Eigenreflexion eine schwierige Sache“, versuchte Milena zu erklären. Sie hatte in Frankfurt viele Male mit aufsässigen Jugendlichen zu tun gehabt. Wenige waren wirklich kriminell, die meisten von ihnen suchten eher ein Ventil für ihre Wut.

      „Wir haben schon so oft mit ihm geredet. Zuerst ist er wütend, dann fängt er an zu brüllen und sagt, dass wir ihn nur loswerden wollen. Dass wir ihn nicht lieben. Weil er nicht so gut ist wie Flori.“

      „Wissen Sie, was er mit ‚nicht so gut‘ meint?“

      Sandra Demandt hob die Hände. „Eigentlich alles. Vor allem nicht so gut in der Schule. Unser ständiger Kampf.“

      „Bringt er schlechte Zeugnisse nach Hause?“

      Sandra Demandt nickte. „Sehr schlechte. Wir haben ihm angeboten, Nachhilfe zu bezahlen. Aber das lehnt er ab. Nach der Schule lernen findet er ‚zum Kotzen‘.“

      „Verständlich.“

      „Sie haben es selbst gehört“, sagte Sandra und wies auf die geschlossene Wohnzimmertür. „Olle Ziege! Wie kann ich mir das bieten lassen?“

      „Ich weiß nicht“, sagte Milena. Sie war keine Expertin in Erziehungsfragen. „Vielleicht stellen Sie ihm das nächste Mal einfach den Strom ab“, wagte sie vorzuschlagen.

      Sandra Demandt lachte gequält. „Sie reden wie Mathias“, sagte sie leise.

      „Inwiefern?“

      „Strafen statt reden, das war seine Devise. Ich soll mir von dem Mistkäfer nicht alles gefallen lassen. Entweder harte Erziehung oder Medikamente.“

      „Medikamente?“

      „Beruhigungsmittel.“

      „Hat Daniel Ihre Gespräche mitbekommen?“