Emma Berfelde

Der Tote vom Winterstein


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und rief Milena etwas zu, das diese nicht verstand.

      Milena ging auf den Flur, vorbei an Daniels achtlos in die Ecke geworfenen Rucksack. Weiter hinten hörte sie Sandra Demandt mit Geschirr hantieren, da war also die Küche. Gleich rechts von ihr stand eine Tür offen. Milena warf einen kurzen Blick hinein. Das Zimmer war aufgeräumt, an den Wänden hingen Bilder von Eishockeyspielern und einigen Popstars, von denen Milena nur Rihanna erkannte.

      Sandra Demandt kam aus der Küche. Sie trug ein Tablett mit einem Teller Kuchen und einer Thermoskanne. „Könnten Sie Schippe und Besen mitnehmen?“ bat sie Milena. „Sie sind auf dem Esstisch.“

      Sandra Demandt stellte das Tablett auf dem Couchtisch ab und holte zwei Tassen mit blauem Zwiebelmuster aus dem Schrank. Dann nahm sie Milena Schippe und Besen aus der Hand. Sie bückte sich und begann, die verstreuten Scherben des zerbrochenen Kerzenständers zusammenzukehren. Für einige Augenblicke war nur ein Scharren und Klirren zu hören. Als sie fertig war, ließ Sandra Demandt die Schippe beladen auf dem Boden stehen und warf den Besen daneben. Sie rieb ihre Hände an der Hose ab und ging zu Milena, die es sich in einem der Sessel bequem gemacht hatte.

      „Er hätte es niemals getan, glauben Sie mir.“ Sie setzte sich auf die Couch.

      „Was meinen Sie?“, fragte Milena, obwohl sie genau wusste, dass Sandra Demandt auf ihre Frage reagierte.

      „Dani hätte seinem Onkel niemals etwas angetan. Er ist ein Angeber und unglaublich unverschämt, aber kein Mörder.“ Sie goss Kaffee in beide Tassen und schob Milena Zucker und Milch hinüber.

      Woher nimmt sie diese Zuversicht? Es gab jüngere Kinder, die bereits einen Menschen auf dem Gewissen hatten. Rentner, die gebrechlich aussahen und sich doch wegen Totschlags vor Gericht verantworten mussten. Unverdächtige Menschen, bis deren zutage tretende Brutalität die Nachbarn fassungslos in die Kameras stöhnen ließen. Milena schloss niemanden aus, jeder Mensch konnte zum Mörder werden.

      „Ich würde gerne mit ihm sprechen.“ Milena goss Milch in ihren Kaffee und nahm einen Schluck.

      „Dani hat nichts verbrochen.“

      „Woher wollen Sie das wissen?“

      Sandra Demandt nahm sich ein Stück Kuchen, biss ab und legte es auf den Teller zurück. Während sie kaute, ruhte ihr Blick auf einem Druck, der eine alte Ansicht der Friedberger Burg zeigte.

      Sie weiß es nicht, dachte Milena. Sie hofft. „Wie lange hat Daniel montags Schule?“

      „Bis vier Uhr“, sagte Sandra Demandt mechanisch und lächelte dann. „Mathias ist am frühen Nachmittag gestürzt, nicht wahr? Dani hatte da Schule.“

      Wenn er nicht geschwänzt hat, dachte Milena. Sie würde das überprüfen.

      „Auf welche Schule geht er?“

      „Die Burg. Nehmen Sie doch ein Stück Kuchen.“

      Milena lehnte dankend ab. „Was haben Sie am Montag Nachmittag gemacht.“

      Sandra Demandt kaute langsam. Sie spülte ihren Bissen mit einem Schluck Kaffee herunter. „Ich hatte Dienst, wie immer.“

      „Ihr Bruder Ulrich sagte meinem Kollegen, dass Sie von allen Familienmitgliedern das beste Verhältnis zu Mathias gehabt haben.“

      Sandra Demandt nickte. „Wir haben oft telefoniert. Hierher kam er selten. Mathias war kein umgänglicher Mensch. Und mit den beiden Jungen, da ging gar nichts. Und dann Sebastian, mein Mann.“ Sie drehte abrupt den Kopf weg. „Sie hatten sich nichts zu sagen. Es gab keinen Streit. Einfach nur Schweigen.“

      „Wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt gesehen?“

      Sandra Demandt stand auf und ging zu einem kleinen Sekretär. Mit einem Taschenkalender in der Hand kam sie zurück. Sie blätterte zum 23. September und zeigte Milena den Eintrag: „U und M, 16 Uhr“. „Mein Geburtstag“, sagte sie. „Mathias war hier, zusammen mit Ulrich. Nur wir drei.“ Sie senkte den Kopf. „Das letzte Mal. Jetzt ist Mathias tot.“

      „Was für ein Verhältnis haben Sie eigentlich zu Ihrer Schwägerin, Anja Herlof?“

      Sandra Demandt hob den Kopf, in ihren langen Wimpern hingen Tränen. Sie musste lautlos geweint haben. Wenn die Frage sie überraschte, ließ sie es sich nicht anmerken. „Kein gutes“, gab sie zu. „Wir waren in der gleichen Klasse. In der Adolf-Reichwein. Sie ist ein Ekel, war es schon damals. Und frühreif. Sie war die Erste, die sich schminkte, die Erste, die einen Freund hatte, mit dem sie angab und rumknutschte. Und die Erste, die Sex hatte. Mit dreizehn. Hat sie zumindest behauptet.“ Sie wischte sich über die nassen Augen. „Mathias hat nicht gut gewählt. Das wurde ihm auch bald klar.“

      „Hat er jemals angedeutet, dass er sich scheiden lassen wollte?“

      „Nein. Ich habe ihm das geraten, mehr als einmal.“

      „Aber er wollte nicht?“

      „Leider nicht. Er sagte, er würde dem Luder den Gefallen nicht tun.“

      ***

      Jan starrte der jungen Frau auf den Busen. Er saß zwischen Lucas, der bereits von hundertdreiundsechzig auf hundertachtundreißig Kilo abgespeckt hatte, und Erika, die seit mehreren Monaten bei hundertzwanzig Kilo rumdümpelte, an einem Ecktisch im Brauhaus auf der Kaiserstraße. Ann-Kathrin, die Jüngste und „nur“ hundertvierzehneinhalb Kilo schwer, saß ihm gegenüber. Ihr Busen war es, der ihn so beeindruckte.

      Jan hatte im Fitnessstudio auf die drei gewartet. Keiner von ihnen wollte länger als nötig in der „Folterkammer“ bleiben. Schnell hatten sie sich mit Jan auf ein Bier geeinigt. „Dürft ihr das auch?“, hatte Jan sie gefragt. Sie hatten nur gelacht.

      Sie waren eine fröhliche Gruppe, diese Dicken. So ganz anders als er selbst. Er erinnerte sich an eine Schulstunde, an vier Zeichnungen von Menschen unterschiedlicher Statur. Dick, mager und kräftig waren die Körper der ersten drei Typen, ein vierter wurde „abweichend“ genannt. Er hatte sich nur die Bezeichnung für eine Figur gemerkt: den Astheniker. Mager, engbrüstig, blass. Dort ordnete er sich selbst ein, denn „abweichend“ wollte er nicht sein. Hier saß er, ein Hänfling, verdorrt inmitten fleischlicher Völlerei. Ein Bier musste her, sie hatten recht.

      „Hast du eine Freundin?“, fragte Ann-Kathrin.

      Jan hob den Kopf und begegnete ihrem wissenden Blick. Er wurde rot. Er nahm ein Schluck Bier und nickte.

      „Schade“, sagte sie.

      „Hatte Mathias Bauer eine Freundin?“, griff Jan das Stichwort auf.

      „Schwer zu sagen.“ Erika leckte am Schaum. Sie hatte ein türkisfarbenes, kurzärmeliges T-Shirt an. Ein Träger ihres schwarzen BHs war runtergerutscht und lag auf ihrem fleischigen Oberarm. „Wenn man die käuflichen Damen als Freundin bezeichnet, dann hatte er eine. Vielleicht auch mehrere. Aber ich glaube, er ging nur zu einer.“

      „Huren?“, fragte Jan.

      Erika nickte. „Was sonst?“

      „Ich meinte eine ähm ... normale Freundin. Eine Frau, mit der er zusammen ziehen wollte.“

      „Er hat mir von einer schicken Blondine erzählt“, sagte Lucas mit monotoner Stimme. Seit sie in der Kneipe saßen, hatte er sich noch nicht zu Wort gemeldet. „Er hat für sie eine Wohnung gekauft. Hat er gesagt.“

      Erika lachte laut und gehässig. „Mir hat er erzählt, dass er beim König von Saudi-Arabien eingeladen war.“

      „Und mir, dass er ein Topspion ist“, fiel Ann-Kathrin ein. „Oder hat er Agent gesagt?“

      „Aber wir wissen Bescheid“, sagte Erika. „Er lebt allein und hat einen langweiligen Job.“

      „Und geht in den Puff“, fügte Ann-Kathrin hinzu.

      Jan wusste nichts über Reisen nach Saudi-Arabien oder einen geheimnisvollen Auftrag. Aber eine Wohnung hatte Mathias Bauer gekauft. Für eine Frau, wie Lucas meinte?