Udo Schenck

Der große Reformbetrug


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ebd. S. 8).

      Im Bereich ihrer materiellen Rechtsansprüche seien ALG-II-Beziehende mit eklatanter Unzuverlässigkeit und großer Intransparenz konfrontiert, obwohl man annehmen könnte, dass dieser Bereich infolge seiner klaren gesetzlichen Regelung weniger Raum für Unsicherheiten zulassen würde und insofern determinierter wäre als etwa die Gesprächsführung der Jobcentermitarbeiter. Trotz der starken Pauschalierung der Leistungen seit Einführung des SGB II gäbe es immer noch zusätzliche Leistungen über die das Jobcenter aufklären müsste, dies aber in aller Regel nicht tue. Denn von Seiten der Bürger/innen und anderen Verwaltungsinstitutionen könne schließlich keine detaillierte Kenntnis der Gesetzeslage voraus gesetzt werden. Dazu wird ein Rechtsanwalt für Sozialrecht folgendermaßen zitiert: „Es ist schon Kalkül, durch Nicht-Information Kosten zu sparen“ (vgl. ebd. S. 9). Während in den Medien oft das Bild von den Leistungsbeziehenden beschworen würde, die den Sozialstaat missbrauchen würden, erleben die Kunden, dass ihnen u. a. durch fehlende Informationen von Seiten der Jobcenter Leistungen vorenthalten würden. Aber selbst bei der nachträglichen Korrektur von fehlerhaften Bescheiden könnten die Kunden keineswegs mit einem Eingeständnis von Fehlern oder gar mit einer Entschuldigung seitens der Jobcenter rechnen.

      Ein weiteres Problem stelle die Nachprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit von Bescheiden dar, mit denen selbst Fachanwälte für Sozialrecht Schwierigkeiten hätten, die sie aus keinem anderen Rechtsfeld kennen würden. So würden gerade bei Änderungsbescheiden fast immer jegliche Begründungen oder Erläuterungen fehlen, welche Leistungen in welcher Weise auf oder angerechnet werden, und die ausgewiesenen Summen würden oft nicht einmal mit Angaben in Kontoauszügen übereinstimmen. Vermeintlich einfache Überprüfungen von Bescheiden gerieten so oft zu einem Ratespiel, bei dem sich der Eindruck einer „systematischen Verschleierungstaktik“ aufdrängen würde. Die diesbezüglichen langjährigen Erfahrungen einer Rechtsanwältin für Sozial- und Familienrecht werden folgendermaßen zitiert: „Also nicht mal die Behördendokumentation stimmt mit den Kontodaten meiner Mandanten überein, das kann nicht angehen. Ich weiß nicht, wie schafft man das überhaupt?! Das verstehe ich überhaupt nicht, das ist mir unbegreiflich, da muss man sich Mühe geben. Und deswegen auch die Vermutung, dass da regelrecht ein Konstrukt hinter steckt, man muss sich bemühen, das so zu verschleiern, dass am Ende nichts mehr passt!“ (vgl. ebd. S. 9).

      Bei dem Versuch einen Sachverhalt zu klären würden Kunden wie auch Expert/innen auf eine sehr geringe Kooperationsbereitschaft der Jobcenter treffen. Häufig würden Kunden von den Sachbearbeitern abgewehrt werden oder nur mündliche Aus- und Zusagen bekommen, die jedoch keine Rechtssicherheit gäben. Äußerst kritisch würde z. B. von Anwält/innen gesehen werden, dass die Aktenherausgabe im Land Hamburg Ermessensentscheidung und die Akteneinsicht oftmals kompliziert sei, da ein Termin mit dem Jobcenter ausgemacht und die Aktenlage vor Ort eingeschätzt werden müsse, sofern keine einstweilige Verfügung vorläge. Dies wird als Strategie der Jobcenter angesehen, die anwaltliche Beratung aus dem Verfahren herauszuhalten. Kritisiert wird ferner, dass außergerichtliche Verfahren zu kurzfristigen Klärungen von den Jobcentern strikt unterbunden würden. Zusammen mit der Herabsetzung der Widerspruchsfrist von vier Jahren auf ein Jahr gerieten ALG-II-Beziehende unter Zeitdruck und in eine Spirale der Demoralisierung bzw. Einschüchterung. Angesichts häufiger finanzieller Existenznot sei es höchst problematisch, dass sowohl Widersprüche als auch eröffnete Gerichtsverfahren keine aufschiebende Wirkung hätten und dadurch auch rechtswidrige Bescheide ihre Gültigkeit behielten.

      Resümierend heißt es, dass Fehler zu Lasten der ALG-II-Beziehenden keine Einzelfälle seien, sondern regelmäßig vorkämen. Daher könnten und sollten ALG-II-Beziehende noch viel häufiger klagen, um die gravierenden Defizite bei der Umsetzung geltenden Rechts offenkundig werden zu lassen. Hinsichtlich der Rechtssicherheit für ALG-II-Beziehende falle das Urteil der Expert/innen sehr negativ aus. Im Bezug auf Rechtsstreitigkeiten mit dem Jobcenter wurde eine Rechtsanwältin folgendermaßen zitiert: „Zum einen fehlt die Gesetzeskenntnis, in jedem Telefonat (mit dem Jobcenter, d. V.) wird sich nur bezogen auf die Fachanweisung, d. h. die Gesetzeskenntnis ist im Ansatz nicht da, dass merkt man auch an den Bescheiden. Wahrscheinlich finden auch keine Schulungen statt. Das Gesetz ist auch eines, das dazu verführt, Missbrauch zu unterstellen, Lügen zu unterstellen, das ist dem Gesetz auch immanent, anders als bei anderen Sozialgesetzen.“

      Ein anderes großes Problemfeld, dem die Studie nachgeht, ist der Fall wenn ALG-II-Beziehende einer Erwerbstätigkeit nachgehen bzw. nachgehen wollen, die jedoch nicht zum Leben ausreicht, sodass sie weiterhin Transferleistungen beziehen müssen. Angesichts der immer wieder erhobenen Forderung von Seiten der Jobcenter die Hilfebedürftigkeit der Kunden möglichst mit allen Mitteln zu reduzieren, erscheine die häufig vorgebrachte Behauptung, nach der die Jobcenter die Aufnahme einer Beschäftigung behindern oder zumindest erschweren würde, zunächst überraschend. Tatsächlich könne aber gerade die Aufnahme einer Beschäftigung für ALG-II-Beziehende zu einem unerwarteten Risiko für ihre Existenzsicherung werden. So genannte „aufstockende Leistungen“ bedeuteten faktisch nicht selten gravierende Probleme. Dies gelte selbst für ALG-II-Beziehende, die neben ihrem Leistungsbezug „nur“ eine geringfügige Beschäftigung annehmen würden (vgl. ebd. S. 12). Indem z. B. bei sog. Minijobs von den Jobcentern gewissermaßen vorauseilend das maximale Einkommen von 400 Euro auf die Leistung angerechnet wird, gerieten diejenigen, die unter dieser Verdienstgrenze bleiben, unversehens in eine Notsituation, die erst durch ihren Wunsch nach Erwerbstätigkeit zustande kam. Zudem sollten Lohnabrechnungen zu dubiosen (weil viel zu frühen) Zeitpunkten eingereicht werden, sodass scheinbar permanent Versäumnisse bei den Nachweis- und Mitwirkungspflichten drohten (vgl. ebd. S. 12). Durch diese Art der Verwaltungspraxis würde eher der Eindruck vermittelt werden, dass sich Erwerbsarbeit im ALG-II-Bezug nicht lohne, man schaffe sich nur Probleme, wenn man unter diesen Bedingungen arbeiten gehen würde, und zwar unabhängig von der allgemeinen Erwerbsmotivation. Ebenso würden selbständig tätige Alg-II-Beziehende mit derartig komplexen bürokratischen Hürden konfrontiert werden, obwohl doch gerade diese Klientel dem propagierten arbeitsmarktpolitischen Ideal entsprechen würde. Diese müssten Einkünfte und Ausgaben nicht nur in den entsprechenden Formularen der Finanzämter, sondern ebenso in Unterlagen der Jobcenter erklären.

      Ferner würde der Weg in die Erwerbstätigkeit „aber auch erheblich durch eine fehlende adäquate Förderung erschwert“ werden. So würde von Experten entschieden die stereotype Vorstellung zurückgewiesen werden, nach der es den sog. Kunden grundsätzlich an der Motivation mangeln würde, an Maßnahmen teilzunehmen, sodass angeblich „händeringend“ nach Teilnehmern für entsprechende „Qualifizierungen“ („“, d. V.) gesucht werden müsse. Fördern findet praktisch nicht statt, so laute vielmehr die Problemdiagnose (vgl. auch Kap. 5.3 und 5.3.1). So heißt es da weiter: „Maßnahmen werden häufig als Sanktionsinstrument missbraucht, Fordern dominiert und ‚überschattet‘ den Einsatz von Förderung, Beschäftigungsträger und private Vermittlungsdienstleister verdienen an oft qualitativ geringwertigen Maßnahmen für Erwerbslose, im Vordergrund steht bei den Jobcentern der Hinweis auf nur geringe finanzielle Mittel und zudem das grundsätzliche Desinteresse an der bisherigen Berufsbiographie, wie der folgende Dialog eines Interviewpartners mit seiner Arbeitsvermittlerin verdeutlicht: „‚Sie haben ja etwas mit Schrauben zu tun.‘‚Nee, nee nicht mit Schrauben, ich habe Industriearmaturen gebaut.‘ ‚Ach ja, das mit den Schrauben‘.“ (vgl. ebd. S. 12).

      Die desinteressierte Verwaltungspraxis in den Jobcentern zeige sich ebenso an der Missachtung der Lebenssituation der Kunden, hinsichtlich Wohnen, Familie und Ausbildung. So würde die Vorgehensweise der Jobcenter eine Wohnungssuche unnötig verkomplizieren. Nach Berichten von Expert/innen würde in vielen Fällen die Übernahmen von Kosten zu lange unklar bleiben oder nur unzureichend erfolgen. So komme es nicht selten vor, dass bei erfolgreicher Suche einer Wohnung Mietverträge aufgrund von Verzögerungen bei der Bearbeitung im Jobcenter nicht zustande kämen oder dass die Miete nicht in voller Höhe übernommen würde und ALG-II-Beziehende Probleme mit ihren Vermietern bekommen würden, weil sie nicht rechtzeitig über Kürzungen informiert wurden. Insofern wäre es ein erstaunliches Ergebnis der Studie, dass auch die Verwaltungspraxis der Jobcenter Wohnungslosigkeit und die Unterbringung in Notunterkünften verursachen würde, was keine außergewöhnlichen Einzelfälle