Udo Schenck

Der große Reformbetrug


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eine zierliche, schlicht gekleidete Mittzwanzigerin, mit wasserstoffblond gefärbten langen Haaren starrt mit kleinen, dunklen und stumpfen Mausaugen auf ihren Bildschirm und gibt mir für den 13. Oktober einen Termin, was erst in gut drei Wochen ist. Ich frage ob es nicht doch vielleicht etwas früher gehen könnte, worauf sie sagt, dass meine Vermittlerin bis dahin krankgeschrieben sei. Was wäre wenn sie noch länger krankgeschrieben wird, will ich wissen. Das müsste ich abwarten, dazu könne sie mir nichts sagen, gibt die Mausäugige schmallippig von sich. Also willige ich notgedrungen ein, bedanke mich und gehe davon.

      Ich gelange nach draußen, wo mich eine wunderbar unverbrauchte, frische Luft unter einem heiteren Altweibersommerhimmel empfängt; es ist befreiend, ja geradezu erquickend diese Luft zu atmen, aufatmen zu können während der eiserne Griff, der sich scheinbar noch um meinen Brustkorb spannt, allmählich erlahmt, gleich dem verblassenden Alpdruck eines abziehenden, schweren Donnerwetters in Kindertagen. Ich fühle mich matt, fix und fertig; bald fünf Stunden war ich in diesem grässlichen, nach menschlicher Niedertracht und Abgestumpftheit geradezu stinkenden Schwitzkasten gefangen.

      Nun hänge ich jedoch ziemlich in der Luft, weiß nicht wann ich wegfahren kann und ob überhaupt. Zudem wollte ich bereits in etwa einer Woche wegfahren, denn wer weiß wie später die Witterung sein wird. Ich kann nichts machen, keine Unterkunft buchen, nichts, gar nichts. Wofür wird da so viel Aufheben gemacht? In der ganzen Zeit, die ich nun beim Jobcenter gemeldet bin wurde mir keine einzige Stelle auf dem regulären, ersten Arbeitsmarkt vermittelt.

      13. Oktober bei meiner Arbeitsvermittlerin, die ich bis dahin noch nicht kennen lernte. Sie war eine durchaus umgängliche und nette Frau und genehmigte mir anstandslos und ab sofort die gewünschten drei Wochen der Ortsabwesenheit. Auch auf meinen Wunsch, wegen der nun erforderlichen sofortigen Rückmeldung aus der Ortsabwesenheit, mich direkt bei ihr persönlich melden zu können, um der stundenlangen Warterei bei der Anmeldung im Jobcenter zu entgehen, ging sie bereitwillig ein.

      Nun war es also Mitte Oktober, hatten wir bisher den schönsten Altweibersommer und goldenen Oktober, so kündigte sich jetzt eine grundsätzliche Änderung der Witterung an, es sollte in den kommenden Tagen erheblich kühler und nasser werden. Und so war’s das mit meinen Urlaubsplänen. Trotzdem war es wohl besser nicht vor dem 13. Oktober weg gefahren zu sein, wie ich dies unter diesen Umständen zuerst noch durchaus in Erwägung zog. Denn noch am 26. September erhielt ich vom Jobcenter die Aufforderung, mich am 1. Oktober bei einer Art Jobmesse, bei der es um Tätigkeiten in sog. Callcentern ging, einzufinden. Hätte ich nicht darauf reagiert wäre es zur Kürzung meines Arbeitslosengeldes gekommen. Bis dahin wusste ich noch nicht, dass auf mich wiederum eine neue Arbeitsvermittlerin wartete, wohl besser gesagt ein neuer, ausgesprochen garstiger Besen, wie sich bald heraus stellen sollte.

      Betrachtungen und Untersuchungen von anderer Seite

      „Die sind sehr, mit ihren Worten können die einen niedermachen. (…) Und ich mach’s immer so, ein Ohr rein, dann geht’s bei mir einmal durch ‘n Magen und tritt auf der andern Seite wieder raus. Ich hab’ ‘ne Phase gehabt, da ging es da rein und hielt sich im Magen fest und jetzt kann ich damit umgehen.(…) Aber wenn ich zur ARGE muss und da was abliefern muss, das ist schon schwer.“

      Zitat von einer allein erziehenden sog. Kundin aus: Respekt – Fehlanzeige? Erfahrungen von Leistungsberechtigten mit Jobcentern in Hamburg 2012, S. 8, Hrsg. Diakonisches Werk Hamburg, Fachbereich Migration und Existenzsicherung

      Vor dem Hintergrund, dass sich die sozialen Beratungsstellen der Diakonie in den zurück liegenden Jahren gehäuft von Leistungsbeziehern aus dem Rechtskreis SGB II (Hartz IV) gegenübersahen, die sich über einen herabwürdigenden Umgang und über schlechte und falsche Beratung in den Jobcentern beklagten, beauftragte das Diakonische Werk Hamburg Sozialwissenschaftler/innen Leistungsberechtigte aus dem Rechtskreis SGB II zu problematischen Erfahrungen mit den Jobcentern zu befragen. Zudem wurden Expert/innen interviewt, die aufgrund ihrer Beratungstätigkeit mit der Verwaltungspraxis gegenüber Leistungsberechtigten konfrontiert sind. Mit dieser Untersuchung sollten die oft als „negativ“ beschriebenen Erfahrungen begrifflich genauer gefasst und kategorisiert werden (vgl. Respekt – Fehlanzeige? Erfahrungen von Leistungsberechtigten mit Jobcentern in Hamburg 2012, Hrsg. Diakonisches Werk Hamburg, Fachbereich Migration und Existenzsicherung).

      Zur Einleitung dieser Studie heißt es: „…Mit einer ganz ähnlichen Thematik hat übrigens das Diakonische Werk der EKD 110 Beratungsstellen im ganzen Bundesgebiet befragt. Sowohl die Befragung des DW der EKD als auch die Hamburger Untersuchung kommen zu ganz ähnlichen Ergebnissen: Menschen im SGB-II-Bezug vermissen Respekt vor ihrer Person und ihrer Lebenssituation. Sie erfahren ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit und Bevormundung, sie vermissen bedarfsgerechte individuelle Hilfen. Viele fühlen sich wie Bürger/innen zweiter Klasse behandelt und nicht wie Kund/innen. (…) Aus Sicht der Diakonie sind Menschen in Armut und Arbeitslosigkeit den Behörden und dem Hartz IV-System ein Stück weit ausgeliefert und brauchen eine starke rechtliche Stellung, um selbstbestimmt ihre Chancen zu wahren. Sie brauchen darüber hinaus eine respektvolle und würdige Behandlung durch die Institutionen der Grundsicherung. Die Ergebnisse dieser kleinen Untersuchung belegen das nachdrücklich.“

      Das Spektrum, der in dieser Studie interviewten ALG II-Bezieher/innen war möglichst breit angelegt, sie reichte vom jungen Erwachsenen bis zum älteren, allein stehenden Arbeitslosen und von der allein erziehenden Mutter bis zum Aufstocker, der von seiner Arbeit nicht leben kann. Ebenso breit angelegt war das Spektrum der interviewten Expertinnen und Experten, von der Sozialberatung bis hin zu Rechtsanwälten.

      Neben dem Umgang mit den ALG-II-Beziehenden wird in der genannten Studie kurz auf die „entmutigende und abschreckende“ innenarchitektonische Gestaltung der Jobcenter eingegangen. So wird hierzu eine Expertin folgendermaßen zitiert: „Wenn man da rein kommt (i. d. Anmeldung des Jobcenters, d. V.), ist da schon ein mehrfaches Abschottungssystem. Man fühlt sich schon abgewiegelt, bevor man den ersten Mitarbeiter zu Gesicht bekommen hat“ (vgl. ebd. S. 5). Ferner wird geschildert wie die Vertreter/innen einer Beratungsstelle auf ein abwehrendes Verhalten der Mitarbeiter in den Jobcentern treffen, wenn sie nicht als solche erkannt werden. „Dann werden sie ebenso unwirsch gefragt: ‚Was wollen Sie denn Hier?’, oder damit konfrontiert, dass sich Mitarbeitende abrupt in ihr Büro zurückziehen, um jeglichen Fragen zu entgehen. ‚Man muss es selbst erleben’ “ (vgl. ebd. S. 5).

      In der Studie wurden drei Ebenen einer „schlechten“ und „unwürdigen“ Verwaltungspraxis in den Jobcentern unterschieden, wobei jedoch die Erfahrungen von ALG-II-Beziehenden und Experten mit Hamburger Jobcentern durch die Wechselwirkung zwischen diesen Ebenen und den sich daraus ergebenden „Dynamiken“ geprägt seien. Folgende Ebenen wurden unterschieden: 1. die Ebene der bürokratischen Abwicklung, 2. die sog. Interaktionsebene und 3. die Materiell-rechtliche: „Von Rechtsunsicherheit bis Rechtsbruch“.

      Auf der Ebene der bürokratischen Abwicklung seien nach der Studie die ALG-II-Beziehenden grundsätzlich mit einer „Papierflut“ konfrontiert und hätten „Aktenordner voller Bescheide zu Hause“. Dies kann der Autor nur bestätigen, denn in kürzester Zeit häuft sich ein Vielfaches an Bescheiden und Dokumenten an, von dem, was sich in einem vergleichbaren Zeitraum während einer Arbeitslosigkeit unter der früheren Betreuung des Arbeitsamtes anhäufte. Als Schikane und Beschäftigungstherapie würden die ALG-II-Beziehenden es erleben, dass sämtliche Unterlagen „fünfmal“ eingereicht werden müssten, denn dadurch steige ihr Verwaltungsaufwand weiter und würde ihr kooperatives Bemühen und die aufgebrachte Zeit entwertet. Weiterhin heiß es: „Das Vertrauen in einen ordnungsgemäßen bürokratischen Ablauf wird auch durch die typische Erfahrung unterminiert, dass im Briefkasten des Jobcenters eingeworfene Unterlagen ihre Empfänger/innen im Haus nur selten erreichen, ‚dann sagen die, ham wir nicht gekriegt’. Das bedeutet für die ALG-II-Beziehenden, ‚sich einreihen, lieber ‘ne Stunde warten’, um die geforderten Unterlagen direkt am Empfang abgeben und sich die Entgegennahme quittieren lassen zu können. Teilweise wird aber auf diese zeitintensive ‚Sicherheitsmaßnahme‘ der ALG-II-Beziehenden am Empfang verärgert reagiert oder das Ausstellen einer Empfangsbestätigung sogar verweigert“ (vgl. ebd. S.