rein nach Aktenlage zu entscheiden. Eine Expertin hätte berichtet, dass eine solche Haltung angesichts von Umzugsproblemen auch ganz explizit von einer Sachbearbeiterin geäußert wurde: „Es ist schön, dass Sie die Perspektive der Leute einnehmen, aber die wollen wir hier gar nicht“. Dies bedeute in der Praxis, dass z. B. Bemühungen von Eltern, das soziale Umfeld (Schule usw.) für ihre Kinder im Falle eines Umzuges (z. B. nach einer Trennung) aufrechtzuerhalten, nicht selten scheitern (vgl. ebd. S. 13).
Jugendliche bzw. junge Erwachsene träfen bei den Jobcentern auf eine Institution, der die Phase der Entwicklung und Orientierung, für unter 25-Jährige weitgehend fremd sei. Nach den arbeitsmarktpolitischen Vorgaben solle diese Gruppe eine „härtere Gangart“ erfahren. Dies kann bis zur Verhängung einer 100-Prozent-Sanktion, also der totalen Aufhebung der ALG-II-Leistungen für Angehörige dieser Gruppe reichen. Mit dieser Betonung von Druck würden die ohnehin großen spezifischen Herausforderungen, denen junge Erwachsene gegenüberstünden, wie den eigenen Lebensweg noch finden zu müssen, oder teilweise große Probleme wie z. B. ein Rauswurf aus der elterlichen Wohnung oder erste Erfahrungen des Scheiterns (Abbruch der Schule oder Ausbildung), völlig missachtet werden. Während diese jungen Menschen eigentlich Unterstützung und das Gefühl bräuchten, mit ihren Schwierigkeiten, aber auch Plänen und Ideen für ihre Zukunft ernst genommen zu werden, würden sie tendenziell mit ihren Problemen allein gelassen und abgewehrt werden. Hinzu komme die fehlende Berücksichtigung und Förderung der eigenen Wünsche und Fähigkeiten hinsichtlich von Ausbildung und Beruf (vgl. auch Kap. 5.3 und 5.3.1). Dies sei ein sehr entscheidender („und verblüffender“) Sachverhalt, angesichts der öffentlichen Diskussion über die große Bedeutung von Bildung, in der es auch um die nachwachsende Generation gehe, und deshalb wäre eigentlich zu erwarten, dass es ein dringendes Anliegen der Jobcenter sei, junge Erwachsene mit Bildungsaspirationen zu unterstützen.
Erstaunlich bis verblüffend ist dies aber auch vor dem Hintergrund der permanenten Propagierung eines angeblichen verbreiteten Fachkräftemangels in Deutschland (vgl. Kap. 3.5). Nach Aussagen von Experten wäre aber eine wirklich ernsthafte Unterstützung der jungen Leute durch die Jobcenter eher der „Einzelfall“. Vielmehr würden junge ALG-II-Beziehende nicht selten dazu gedrängt, ihren Wunsch einen Schulabschluss nachzuholen, zugunsten einer Beschäftigungsaufnahme aufzugeben. So wäre eine junge Frau, während sie ihre Mittlere Reife nachholte, regelmäßig zum Jobcenter eingeladen, und nach ihren Bewerbungsbemühungen gefragt worden, oder ein junger Mann mit Migrationshintergrund, der eigentlich seinen Hauptschulabschluss machen wollte, solle zu der Teilnahme an einem sog. „real life training“ gedrängt worden sein, bei dem es weitaus mehr um die Einübung von Disziplin als um eine wirkliche Verbesserung der Arbeitsmarktchancen ging. Ähnliche, höchst fragwürdige Fälle, in denen den Betreffenden quasi noch Knüppel zwischen die Beine geworfen werden, sind auch dem Autor aus seiner weiteren Umgebung bekannt. So wird in der Studie fort gefahren: „Mit dieser Praxis nehme man letztlich billigend in Kauf, dass U25-Jährige dauerhaft im Bereich der schlecht bezahlten „Mc-Jobs“ tätig sind und damit in ein Segment der prekären Beschäftigung ‚abgeschoben‘ werden, aus dem ihnen ein Aufstieg (gerade wenn ihnen formales Bildungskapital fehlt) nur noch schwer möglich ist.“ (vgl. ebd. S. 14).
Offenbar möchte man die jungen Menschen zusammenstauchen, nach dem Muster: Halt die Klappe, was du brauchst und möchtest interessiert uns einen Dreck. Wenn „wir“ Fachkräfte brauchen holen wir die lieber aus dem Ausland, das ist viel billiger und damit wettbewerbskonformer, für uns Global Player. Und wenn man die jungen Leute so gebrochen und um(v)erzogen hat wie man es braucht, dann brüllen die wie einst ihre so „wunderbar“ disziplinierten Groß- und Urgroßeltern aus geschwellter Brust: Hurra, hurra, wir halten durch bis zum Endsieg – für die Eroberung der Weltmärkte! „Schöne“ Aussichten.
Knigge für Unbemittelte
Ans deutsche Volk, von Ulm bis Kiel:
Ihr esst zu oft! Ihr esst zu viel!
Ans deutsche Volk, von Thorn bis Trier:
Ihr seid zu faul! Zu faul seid ihr!
Und wenn sie auch den Lohn entzögen!
Und wenn der Schlaf verboten wär!
Und wenn sie euch so sehr belögen,
dass sich des Reiches Balken bögen!
Seid höflich und sagt Dankesehr.
Die Hände an die Hosennaht!
Stellt Kinder her! Die Nacht dem Staat!
Euch liegt der Rohrstock tief im Blut.
Die Augen rechts! Euch geht’s zu gut.
Ihr sollt nicht denken, wenn ihr sprecht!
Gehirn ist nichts für kleine Leute.
Den Millionären geht es schlecht.
Ein neuer Krieg käm ihnen recht,
So macht den Ärmsten doch die Freude!
Ihr seid zu frech und zu begabt!
Seid taktvoll, wenn ihr Hunger habt!
Rasiert euch besser! Werdet zart!
Ihr seid kein Volk von Lebensart.
Und wenn sie euch noch tiefer stießen
und würfen Steine hinterher!
Und wenn Sie euch verhaften ließen
und würden nach euch Scheiben schießen!
Sterbt höflich und sagt Dankesehr.
Erich Kästner
Frau Z
Ich erhielt eine Einladung von Frau Z aus dem Jobcenter Neukölln, mal wieder von einer neuen Arbeitsvermittlerin: „Ich möchte mit Ihnen über Ihr Bewerberangebot bzw. Ihre berufliche Situation sprechen. Bringen Sie bitte noch zusätzlich folgende Unterlagen zu diesem Termin mit: - Nachweis Ihrer Eigenbemühungen (Bewerbungen, d. V.).“ In den bis dahin zurückliegenden zwei Jahren hatte ich fünf verschiedene Arbeitsvermittler/innen.
Am Tag des Termins bei Frau Z im Jobcenter Neukölln: Heute Morgen ist es als belagere mich eine dunkle, schwere Wolke; ich habe ein ungutes, flaues und nervöses Gefühl im Magen, dem auch mit mehreren Ablenkungsversuchen nicht beizukommen ist. So etwas kannte ich früher nicht. Bis vor einiger Zeit hörte ich von solch einem spannungsgeladenen Unwohlsein vor Gängen zum Jobcenter zunächst nur von anderen. In der letzten Zeit holten auch mich immer häufiger diese Unbilden ein, stand irgendein Termin beim Jobcenter an. Denn zusehends wurde es unberechenbarer von welch übler Laune oder Absurdität man überrascht werden konnte. Man hofft nur, dass diese launische, streitsüchtige und übermächtige Bestie heute satt und schläfrig sei, denn sonst müsste man mit ihr hellwachen Sinnes und gut gerüstet kämpfen, so lange bis sie müde ist, bis man ihr die Argumente und das Recht gründlich um die Ohren gehauen hat, diesem niederträchtigen, erbärmlichen Vieh, und es nachgeben muss.
Heute scheint mir dieses Unbehagen tatsächlich besonders groß zu sein. Es hilft nichts, ich muss da hin und durch. Mit zu den Ohren hämmerndem Herzen klopfe ich an der Tür meiner neuen Arbeitsvermittlerin und eine schrille, fordernde Stimme ruft mich herein. Ich sehe eine eher stämmige aber nicht übergewichtige, etwas größere Frau, Ende dreißig bis Anfang vierzig, mit langem, blond gefärbtem Haar. Auf feminines Outfit bedacht, trägt sie sogar Pumps, was einem heute doch recht selten in einem Jobcenter begegnet. Am auffälligsten sind jedoch ihre kalten, graugrünen Wolfsaugen, die mich unablässig taxieren, zu durchdringen versuchen, aus einem eher vollen und weniger feinsinnigen Gesicht. In ihrer etwas klirrenden und schnarrenden aber kräftigen Stimme liegt etwas Energisches und Anmaßendes:
„Sie sehen ja gar nicht so aus wie die, mit denen ich hier sonst immer zu tun habe.“
Ich frage: „Wie sehen die denn aus, mit denen Sie sonst so zu tun haben?“
Leicht gereizt kommt es zurück: „Na Sie sehen jedenfalls nicht so aus als müssten Sie arbeitslos sein. Warum hat