Sabine Otto

Das Schicksal und andere Zufälle


Скачать книгу

Sie noch ein Dessert?“ fragte er, obwohl er genau wusste, dass seine Sekretärin extrem auf ihre Figur achtete und niemals etwas so Sündhaftes essen würde, wie einen süßen Nachtisch. Ihr Kopfschütteln bestätigte seine Vermutung.

      „Na, dann müssen wir jetzt los. Sind sie soweit?“

      „Sicher“, meinte Nathalie munter, „von mir aus können wir gehen.“

      Beide räumten ordnungsgemäß ihr Tablett bei der Rücklaufstation ein. Jan legte sehr viel Wert darauf, genau dort zu Mittag zu essen, wo seine Mitarbeiter ihre Mahlzeit einnahmen. Erstens bildete er sich ein, sich so ein Bild von der Stimmung seiner Mitarbeiter machen zu können und außerdem sorgte er so auch gleichzeitig für eine kontinuierliche Qualität des Speiseplanes. Der Betriebsleiter seiner Kantine achtete so viel mehr darauf, was er zubereitete, wenn der Chef das Gleiche aß wie seine Angestellten.

      Während sie in seinem Auto, einem flotten Jaguar Cabrio, zu ihrem Termin fuhren, plapperte seine Assistentin ohne Unterlass auf ihn ein. Sonst war ihm das eigentlich immer gleichgültig gewesen. Auch die Tatsache, dass sie sich wohl in ihn verguckt hatte, ignorierte er normalerweise. Aber heute war es ihm irgendwie lästig. Er wollte lieber in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Aber sie waren ja sowieso gleich bei dem anderen Bewerber angekommen. Er hoffte, dass deren Vorschlag schlechter war als der, von der Agentur Wagner. So würde er guten Gewissens seine Entscheidung treffen können.

      Das hatte er sich nicht so vorgestellt, als er den Brief geschrieben hatte. Er hätte in der Geschichte eigentlich der strahlende Held sein sollen, der sich auf seinem edlen Ross in Richtung Sonnenuntergang bewegte, während sie weinend und nach ihrem Herzallerliebsten schmachtend zurückblieb. Gut, das mit dem Weinen und Schmachten konnte er nicht überprüfen, aber der erste Teil schien sich auch nicht im Entferntesten zu erfüllen. Er fühlte sich alles andere als heldenhaft, eher sehr einsam und alleine. Dabei war doch er derjenige, der seine Freundin verlassen hatte. Trübsinnig starrte Kai zum Fenster hinaus. Das Wetter trug auch in keinster Weise dazu bei, seine Stimmung zu heben. Es nieselte unaufhörlich, alles war grau. Tim, bei dem er erst einmal untergeschlupft war, verbrachte das Wochenende bei seiner Freundin. Und es war erst Freitagabend! Er hatte sich ein bisschen Ablenkung und Trost von seinem Kollegen und einzigen Freund erhofft, aber lieber hätte er sich die Zunge abgebissen, als ihn zu bitten, bei ihm zu bleiben. Bevor ihm nun die Decke auf den Kopf fiel, ließ er sich doch lieber bei einem kleinen Abendspaziergang durchweichen. Gesagt getan! Nichts wie raus aus der fremden Wohnung. Anstatt in den Sonnenuntergang zu reiten, lief er zwar jetzt in den kalten Regen und dichten Nebel hinein, aber es passte zu seiner Stimmung und hatte irgendwie etwas Melodramatisches an sich.

      Plötzlich fand er sich in seiner alten Straße stehend und zu seiner Wohnung hinaufschauend wieder. Es war nichts zu erkennen, außer dass Licht brannte. Ob er wohl mal kurz hinaufgehen sollte, um zu schauen wie es ihr so ging? Bloß nicht, ermahnte ihn sein Ego. Wie sieht das denn aus, wenn er von zwei Monaten nicht einmal die erste Woche durchhielt. Schnell eilte er weiter, bevor ihn noch jemand dabei ertappen konnte. In Gedanken und Selbstmitleid versunken, kam ihm die Gegend auf einmal wieder sehr bekannt vor. Wann war er hier noch gleich gewesen? Ach ja, das war ja gerade letzte Woche gewesen, als er mit Tim, Linda nach Hause gebracht hatte. Es kam ihm schon wie eine Ewigkeit vor. Ob er wohl mal bei ihr klingeln sollte? Vielleicht hatte sie ja Lust darauf, mit ihm etwas trinken zu gehen. Aber es könnte ja auch sein, dass sie gar nicht alleine war. Eigentlich wusste er gar nichts von seiner Kollegin; nicht einmal, ob sie einen Freund hatte oder vielleicht noch bei ihrer Mutter wohnte.

      Genau in diesem Moment ging die Haustür auf und Linda trat mit einem Müllsack heraus. Verdutzt schaute sie ihn an.

      „Was machst Du denn hier?“

      „Ehm“, verlegen druckste er herum. Es sah ja fast so aus, als ob er mit Absicht zu ihr gekommen war. „Ich bin gerade zufällig hier vorbeigekommen. Habe einen Abendspaziergang gemacht.“

      „Klar, ich gehe bei diesem Wetter auch immer noch mal um den Block.“ Spöttisch schaute sie ihn an. Aber dann sah sie etwas in seinem Blick, das nicht zu dem flachsigen Umgangston, den sie sonst miteinander pflegten, passte.

      „Eigentlich wollte ich nur den Müll in die Tonne werfen, aber wenn Du Lust hast, kannst du mich auf ein Bier einladen. Ich kenne da eine ganz nette Kneipe, gleich um die Ecke.“ Fragend blickte sie zu ihm auf.

      „Warum eigentlich nicht. Ich habe eh gerade nichts Besonderes vor.“ Betont lässig stimmte er zu. Bloß nicht zeigen, wie froh er über ihre Gesellschaft war.

      „Ach, ich dachte, Du wolltest die Pfützen zählen.“

      „Du muss auch immer das letzte Wort haben.“

      Schweigend setzte sie sich in Bewegung, keinen Zweifel daran lassend, wer hier immer das letzte Wort haben musste.

      In der Kneipe angekommen, ergatterten sie noch einen freien Tisch, bestellten sich jeder ein Bier und musterten sich dann verstohlen. Es war irgendwie eine komische Situation. Sie hatten selten ein Wort außerhalb der Arbeit miteinander gewechselt; wenn, dann nur sehr oberflächlich. Linda schaute ihn mit ihren dunklen Augen an und meinte dann direkt: „Ich weiß, Du trägst irgend ein Problem mit dir herum. Wenn Du möchtest, ich kann sehr gut zuhören.“

      Verblüfft blickte er sie an. Wie hat sie das denn nur gemerkt.

      Als er zögerte, meinte sie: „Keine Angst, ich tratsche für gewöhnlich keine Privatsachen im Geschäft herum. Ich kann schweigen wie ein Grab. Aber, ich will mich nicht aufdrängen. Ich dachte nur, es würde dir gut tun.“

      „Eigentlich hast du recht. Ich habe sowieso niemanden, mit dem ich mich ausquatschen könnte. Außerdem habt ihr Frauen ja im Probleme austauschen viel mehr Übung als wir Männer.“ Er lächelte schüchtern. Doch dann kam alles aus ihm herausgesprudelt, alles was sich in der letzten Zeit in ihm angestaut hatte. Er hatte in Linda eine wirklich geduldige und aufmerksame Zuhörerin gefunden. Sie unterbrach ihn kein einziges Mal und sagte auch nichts, als er fertig war. Seltsamerweise empfand er das nun einsetzende Schweigen nicht als peinlich. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Dann fing sie an, von sich zu erzählen. Ohne Einleitung berichtete sie von ihrer letzten Beziehung. Es waren nun fast zwei Jahre, dass sie nach vier Jahren harmonischen Zusammenlebens voneinander getrennt waren. Auch sie war von dem Wunsch nach einem Baby wie besessen gewesen. Ihr Freund wich diesem Thema aber immer gekonnt aus; bestand sogar jedes Mal darauf ein Kondom zu benutzen. Allzu oft wäre es eh nicht vorgekommen.

      „Gott sei Dank haben wir die Dinger benutzt, muss ich im Nachhinein sagen.“ Sie machte eine kleine Pause, in der das Erlebte noch einmal an ihrem inneren Auge vorüber zu ziehen schien.

      „Wieso?“ fragte Kai gespannt.

      „Eines Tages eröffnete er mir, schon längere Zeit ein Verhältnis zu haben.“

      „Oh!“ Er nickte verstehend.

      Sie schaute ihn mit einem undurchdringlichen Blick an und sagte dann tonlos: „So ungefähr. Er hatte eine Affäre mit einem anderen Mann.“

      „Au Backe!“ Kai fiel die Kinnlade runter. „Und ich dachte, ich hätte Probleme!“

      Linda wischte mit der Hand über den Tisch, als wollte sie damit auch die Vergangenheit wegfegen. „Ach, das ist längst Schnee von gestern. Ich bin darüber hinweg. Auch wollte ich keinesfalls damit deine Probleme herunterspielen.“ Sie lächelte auf die ihm schon so vertraute ironische Art. „Ich wollte dir nur aufzeigen, wie facettenreich das Leben doch ist. Und dass man, egal was passiert, irgendwann wieder die Oberhand bekommt.“

      „Darauf trinken wir einen!“ Er winkte der Bedienung, hielt zwei Finger hoch und deutete auf ihre leeren Gläser. „Mir geht es jetzt schon viel besser!“

      Es wurde noch ein sehr netter Abend. Kai war erstaunt, wie gut er sich mit Linda unterhalten konnte. Nicht mehr ganz nüchtern brachte er sie zu später Stunde noch bis vor die Haustür. Übermütig streckte er ihr die Lippen für einen Abschiedskuss entgegen. Sie drückte ihm ihre Wange hin und schlängelte sich mit einem kurzen „Schlaf gut“ durch die Türöffnung. Mit leichten Schritten, einen Stein vor sich her kickend, bewegte