Angelika Merkel

Vermächtnis der Sünder Trilogie


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»Gebt nicht auf!«, flüsterte es in ihr. War es ihre eigene innere Stimme? Oder war es beginnende Halluzination?

       Rasender Schmerz holte sie aus ihren verschwommenen Gedanken. Stöhnend begann sie, zu kriechen. Ihre Finger krallten sich durch den Schnee in den harten Boden. Mit größter Kraftanstrengung zog sie sich vorwärts. Entrückt, ohne zu wissen warum, wehrte sie jegliche Hilfe der Umstehenden ab. Dabei hörte sie dumpf Deirdres Stimme, die irgendwelche uralten Worte summte. Vor ihren geistigen Augen stieg Nebel auf. Milchige Schwaden durchzogen von altvorderen Magie, beschrieben augenblicklich eine Gasse, die zu Lutek führte.

       Der schon zuvor unerträgliche Schmerz in ihrer Seite wurde heftiger. Doch er war anders. Es war nicht der Pein, der ein Entrücken aus der weltlichen Sphäre verursachte. Vielmehr schienen sich ihre gebrochenen Rippen eigenständig zu bewegen und sich selbst zu heilen. Mit jedem Stück Boden, den sie auf den Weg zu ihrem Gefährten eroberte, richtete sich ein weiterer Knochen in ihr. Das Pulsieren des Lebensmuskels wurde augenblicklich kräftiger. Ihre Sinne klärten sich und ihr Körper gehorchte ihren Befehlen. Sie stemmte sich auf die Knie. Das anfängliche Schwindelgefühl ignorierend taumelte sie auf die Füße.

       Mit ihrem ersten Schritt nach vorne vernahm sie vor sich einen lauten Seufzer. Lutek krümmte sich in den Armen Belothars. Gleichwohl formte sich ein Bild in Celenas Bewusstsein.

       Lutek lehnte im Türrahmen eines Hauses und lächelte ihr zu. Sie hauchte ihm zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange, bevor sie die häusliche Wohnstatt betrat, in der ihr erwartungsvolles Lachen entgegenströmte. Ein befreiender Schrei holte sie aus dem Bildnis in das Hier und Jetzt zurück. Lutek hatte ihn ausgestoßen. Mit jedem weiteren Schritt, den sie auf ihren Liebsten zu trat, strömte ihre Stärke zurück. Und je näher sie ihm kam, umso kräftiger wurde auch ihr Gefährte. Atemlos blieb sie vor ihm stehen. Wie von tagelanger Anstrengung ermüdet, sackte sie neben ihm zu Boden. Ihre Augen hefteten sich in die Seinen, der sie blinzelnd anblickte. Unbeholfen schälte sich Lutek aus der Umarmung des Königs, setzte sich auf und rutsche nahe zu Celena hin. Von alldem erschöpft, fühlte sich die junge Frau plötzlich leer und schläfrig. Sie spürte, wie der Rotschopf unter ihre Schultern griff, sie ein wenig anhob und ihr Haupt in die Beuge seines Armes legte. Seine zärtlichen Worte hörte sie nicht mehr. Nur schwarze, traumlose Leere umhüllte sie. Mitten in der Dunkelheit aber leuchtete ein kleines Licht. Eine leuchtende Knospe, die sich die Finsternis gebar und sie hatte es dort gepflanzt.

       * * *

      Dieses Schachspiel vor ihr war nicht nur ein schwarz-weiß kariertes Brett. Es war mehr! Es war das Universum. Seine Ansammlung von Regeln, erzählten Geschichten. Man musste nur den Weg der Züge zurückverfolgen. Und stets sollte man auf die Erzählungen hören, denn nur ein Narr würde sie ignorieren.

       Unbeeindruckt stierte sie darauf.

       Ihr Bluthund leistete gute Arbeit, denn seine Verblendung war ein machtvoller Quell, der ihr zu Diensten war. Trotzdem mangelte es all diesen Figuren an Regeln und Zügen. Ja, es mangelte ihnen an der Gunst dessen, was man Schicksal zu nennen pflegte.

       Nicht die Figur hatte den Willen dazu, sondern der Spieler, der die Steine bewegte. Und auch dieser mochte hinter dem gigantischen Brett, welches die Welt darstellte, von Zeit zu Zeit wechseln. Mal bewegte der eine seine Figuren, mal der andere. Jeder dieser Darstellung konnte aus dem Schatten seiner Existenz als willfähiger Krieger auf dem Schlachtfeld des Lebens hervortreten. Gar selbst zu einem Spieler werden. Niemand konnte es vorausahnen.

       Er, ihr Gegenspieler, hätte diese Erkenntnis zu seiner eigenen machen können. Vielleicht hatte er es. Nicht aber vor langer Zeit, als er dachte, jeder Stein im Spiel müsste sich seinem Willen beugen. War er weiser geworden? Wer wusste das schon!

       Es war unbedeutend.

       Mit jedem Augenblick, der verstrich, wurde sie stärker. So wie er.

       Ihre Stärke kam jedoch nicht von der Liebe einiger wenigen Auserwählten. Sie zog ihre Kraft aus den Tiefen der Welt. Ihre Energie sog sie aus den Kriegen und dem Mord, dem Hass und der bigotten Heuchelei der Wesen an der Oberfläche. Und nicht zuletzt war sein Zorn eine überquellende Kraftressource, die sie unbemerkt anzapfte.

       Der Springer war vorgerückt. Die Bauern standen als unerschütterlicher Wall vor ihm. Würde er den alles entscheidenden Zug machen?

       Sie ergriff ihren schwarzen Läufer und setzte den gegnerischen König schach. Es war einer ihrer wertvollsten Untertanen. Mochte er dankbar sein, ob ihrer Gnade. Der weiße Läufer würde diese vielleicht nicht kennen. Fair. Gerecht. Geduldig. War dies der Verborgene auf der anderen Seite? Geduldig, sicherlich. Gerechtigkeit und Fairness, die waren ihm fremd.

      * * *

      Aus ihrem tiefen Schlummer erwachend, schlug Celena die Augen auf. Sie fühlte sich gerädert. Nicht wie jemand der geruht und geschlafen hatte. Es war ihr eher, als ob sie auf tief verschlungenen Pfaden über weit entfernte Gestirne gewandert sei.

       Mit ihren Lidern klappernd gewahrte sie verschwommen und verschlafen ein bärtiges Gesicht über ihr. Neben diesem, unklar das jungenhafte Antlitz Belothars, der besorgt dreinschaute. Träumte sie noch immer oder war das Bartgesicht tatsächlich Kommandant Nacud?

       »Was! Nac …«

       Ihr Blick schärfte sich. Sichtlich erleichtert stellte sie fest, dass es nicht das Gesicht Nacuds war, welches auf sie herabschaute. Es war das Gesicht des älteren Hüters, der ihr mit schläfrig wirkenden Augen entgegenblinzelte.

       »Langsam«, raunte Terzios. »Nicht so schnell junge Frau. Ihr müsst eure Kräfte sparen.

       »Lutek?« Ruckartig setzte sich die Kriegerin auf, verzweifelt das Gesicht suchend, dass sie eigentlich erwartet hatte.

       »Ein Glück! Ihr habt es überlebt. Hattet ihr geträumt?«, fragte Belothar.

       Celena runzelte ihre Stirn. Ihr beschlich das seltsame Gefühl, das Weitere nur zu gut zu kennen.

       War dies tatsächlich ein Traum gewesen? War Nacud nicht der Nacud, sondern Terzios, der in ihrem Traum nur der Ausdruck ihrer wilden Fantastereien wurde? War dieser nur eine Gestalt, der sie in den Illusionen des Schlafes einen anderen Namen gegeben hatte?

       »Wo ist Lutek?«

       »Wer?« Belothar hob fragend eine Braue.

       Das konnte nicht sein. Unmöglich. Ihr Herz weigerte sich, für einen kurzen Moment weiter zu schlagen. Wie vom Blitz getroffen, rappelte sich die junge Frau auf, ignorierte die protestierenden Muskeln und starrte ungläubig den jungen Mann ihr gegenüber an. Mit bis zur Kehle hämmerndem Herzen gewahrte sie hintergründig Ruinen. Völlig konfus fuhr sie den König an. »Ihr wisst, von wem ich rede«, verzweifelte sie. »Lutek, Spion aus Osgosai. Rote fuchsfarbene Haare. Er hatte in Gerit verweilt.« Ihre Stimme drohte sich zu überschlagen.

       Belothar hob und senkte die Brauen. In voller Abwehrhaltung neigte der junge Mann sein Haupt leicht zurück. Genauso tat er es stets, wenn er etwas zu hören bekam, was ihm nicht zusagte.

       Sie spürte die Hand des alten Hüters auf ihrer Schulter.

       »Es tut mir leid, wir wissen nicht, von wem ihr da sprecht. Während des Ritus träumt …«

       Celena drohten abermals die Sinne zu schwinden. Es war alles ein Traum? Aus dummer Hoffnung heraus eine Sehnsucht geboren? Sie war demzufolge immer noch im Ordenstempel. Es konnte nicht sein.

       Sie schüttelte den Kopf. Schnee, Kälte? Aber dort war es …

       »Das ist nicht lustig! Es reicht!«

       Eine ihr wohlvertraute Stimme wies die beiden Männer zurecht. Augenblicklich wirbelte Celena herum. Kristallblaue Augen strahlten sie an, wobei das böse Lächeln nicht dazu passen wollte. Es galt nicht ihr, sondern den beiden Spaßvögeln hinter ihr. Nun ernteten sie die Früchte ihres geschmacklosen Scherzes.

       »Entschuldigt!«Terzios griente in seinen Bart hinein. »Es war einfach zu verlockend.«

       »Verlockend?«, schimpfte Celena drauf los. »Verlockend ist es, euch jedes Barthaar einzeln auszureißen. Und ihr, Belothar. Euch wird das Lachen noch vergehen. Ihr werdet kein Auge zu machen